Initiative Pro Netzneutralität

Was mich an Coronaleugnern am meisten stört

27. Oktober 2020 21:57

Daß sich diese Szene mit unverbesserlich Gestrigen und Verschwörungstheoretikern aller Art mischt, verwundert mich überhaupt nicht. Beschämend daran ist höchstens, daß im Gegensatz dazu das linke Lager weniger über inhaltliche Differenzen hinwegsieht, um endlich etwas in Richtung Hoffnung für die Zukunft zu bewegen.

Daß sich Links und Rechts in solchen obskuren Bewegungen unter Umständen sogar treffen ist auch nichts Neues. Das war schon im Zusammenhang mit Syrien zu beobachten. Oder sehen wir uns sogenannte Anti-Imperialisten an, die nichts anderes tun, als die eine Großmacht abzulehnen und sich auf die Seite der anderen zu stellen. Menschen mögen einfache Erklärungen für alles. Am besten einen Schuldigen und los geht's. Der Dorfdepp hatte früher wenigstens seine Existenzgarantie.

An den Coronaleugnern stört mich deren Selbstüberheblichkeit, der Anspruch, als Einzige die Wahrheit erkannt zu haben und uns nun die Welt richtig zu erklären.

Wenn ich diejenigen ausnehme, die wissen was sie tun und die bewußt agitieren, die sich so vielleicht eine permanente Dopaminausschüttung verschaffen, dann haben diese Leute keine Ahnung, wie Wissenschaft funktioniert. Weder wissen sie, wie und wo Studien veröffentlicht werden, welche Publikationen und welche Wissenschaftler renommiert sind, wie mensch heutzutage ohne großen Aufwand Studien nachschlagen und etliche sogar im Volltext lesen kann, noch suchen sie in Texten, die sie lesen oder in Videos die sich sich ansehen, nach den Quellen der Aussagen. Sie wären auch nicht in der Lage, umfangreich zu recherchieren, um sich eine objektive Meinung zu bilden oder den Stand der Wissenschaft zu einem Thema festzustellen. Im Glücksfall lernt mensch so etwas ansatzweise in der Schule und vielleicht an der Universität. Selbstverständlich müssen nicht alle Menschen studiert haben, um mitreden zu dürfen, aber dazu später mehr.

Natürlich gibt es Probleme in der Wissenschaft. Forscher können sich irren oder aus opportunistischen Gründen methodisch exaktes Arbeiten nicht so ernst nehmen. Der Wissenschaftsbetrieb hat es aber so an sich, daß dies früher oder später auffliegt. Erst recht Betrug. Es ist guter Brauch, daß Arbeiten vor der Veröffentlichung in Journalen einem Peer Review Prozeß unterzogen werden. Forscher, die nicht an der Arbeit beteiligt waren, sehen sich diese an. Trotzdem ist es nie verkehrt, bei jeder Studie zu fragen, wer was mit welchen Absichten veröffentlicht und vor allem finanziert hat. Von Zulassungsstudien für Medikamente oder Pestizide ist bekannt, daß diese meistens von den Herstellern bereit gestellt werden und ausschließlich das Ziel der Zulassung haben. Bekannt ist leider auch, daß sich die entscheidenden Behörden oft nur auf die Studien der Hersteller und nicht auf solche von unabhängigen Wissenschaftlern verlassen. Daß dabei wirtschaftliche Interessen und Lobbyisten eine Rolle spielen, weiß fast jeder. Das wäre doch ein Fressen für Coronaleugner, aber so weit reicht ihr Blick auf die Wissenschaft gar nicht.

Auch daß Studien hinter Bezahlschranken verschwinden, obwohl sie unter Umständen mit Steuergeld finanziert wurden, und daß sich dagegen längst Initiativen organisiert haben, müßte erwähnt werden, wenn es hier lediglich um eine Beschreibung des Wissenschaftsbetriebes ginge.

Coronaleugner tun wissenschaftliche Erkenntnisse und den Stand der Wissenschaft unbesehen ab. Sie wissen es einfach selber besser. So wie Trump, der öffentlich sagte, Wissenschaftler können dies nicht wissen. Ich denke sowieso, daß Trump viel dafür getan hat, daß Menschen ungeniert Fakten ignorieren. Schuf der doch den Begriff der alternative facts. Also, etwas gilt zwar allgemein als wahr, aber dann gibt es ja noch die alternative Wahrheit.

Wer sich auf den Pfad eines solchen Denkens begibt, verläßt einen gesellschaftlichen Grundkonsens. Wissenschaft versucht, sich von jeder sachfremden Definitionshoheit zu befreien. Die Kirche kann heute nicht mehr bestimmen, daß die Erde der Mittelpunkt des Universum und eine Scheibe ist, über welche die Sterne in komplizierten Bahnen wandern. Die Wissenschaft konnte sogar die allermeisten Menschen davon überzeugen, daß dies nicht der Fall ist. Sie ist bemüht, uns zu anderen Fragen ähnlich gesicherte Antworten zu liefern. Dabei ist der Stand der Wissenschaft eher ein konservatives Statement und spiegelt nicht immer die allerneusten Forschungsergebnisse wieder. Wenn Studienergebnisse reproduzierbar sind, wenn mehrere Studien, am besten mit völlig unterschiedlichen Ansätzen, zu ähnlichen Ergebnissen kommen und dies in der wissenschaftlichen Community akzeptiert wird, stellt dies den Stand der Wissenschaft dar. Unter den gleichen Bedingungen können neue Erkenntnisse bisher gesichertes Wissen korrigieren. Die Wissenschaft lernt! So galten lange Zeit Magengeschwüre als psychisch bzw. durch Streß bedingt, Illustrierte schrieben von der Managerkrankheit, bis das Bakterium Helicobacter pylori entdeckt wurde, das diese verursacht. Menschen suchen immer nach Erklärungen und nehmen diese auch dann an, wenn sie falsch sind. So dachten die alten Germanen, daß im Himmel Götter miteinander kämpfen, wenn es blitzt und donnert. Auch fanden sie Beweise. Versteinerte Innenskelette von Belemniten waren für sie die von den Göttern verschleuderten Donnerkeile. Welches Mysterium müßte erst radioaktive Strahlung und die von ihr verursachte Strahlenkrankheit sein, hätten wir keine Erkenntnisse über sie.

Bisher gab es bei uns den Grundkonsens, daß Wissenschaft dem möglichst objektiven Erkenntnisgewinn dient. Natürlich wurde damit auch Schindluder getrieben. In den 60er Jahren galt für manche Menschen etwas bereits als wahr, weil es nicht handschriftlich sondern gedruckt war. Später reichte es immer noch, ohne Beleg die Wissenschaft zu erwähnen. Es ist wissenschaftlich erwiesen, Wissenschaftler haben herausgefunden daß... usw. Manche Boulewardmedien sind heute noch auf diesem Niveau und Youtube erblödet sich, Vorschläge zum weiteren Angucken aufgrund rein textlicher Übereinstimmung zu präsentieren. Nur weil ich etwas auf Youtube oder sonstwo gesehen habe und es mir mit meinem derzeitigen Wissen als plausibel erscheint, muß es lange noch wissenschaftlich korrekt sein.

Es muß nicht jeder studiert haben, aber erfreulicherweise haben wir immer mehr Möglichkeiten, uns gut zu informieren. Als ich Mitte der 70er an der Uni war, mußte ich lange durch Karteikarten wühlen, bis ich ein paar Bücher zu meinem Thema fand. Unter Umständen waren diese gerade ausgeborgt oder nur in einer ortsfernen Bibliothek vorhanden. Ich mußte sie bestellen und warten, um dann unter Umständen festzustellen, daß nicht alle Bücher für mich brauchbar waren. Heute kann ich in einer Stunde mehr herausbekommen, als früher in Wochen, ohne mich vom Schreibtisch erheben zu müssen. Dabei den Schrott herauszufiltern und Falschinformationen nicht aufzusitzen, nennt sich Medienkompetenz. Diese kann sich mensch mit gutem Willen mit der Zeit selbst aneignen. Noch besser wäre natürlich, sie wäre Teil der Allgemeinbildung. Davon blubbern unsere Politiker schon ewig. Am besten wäre, Schulen würden nicht sozial sieben, sondern jeder und jedem unabhängig von der Herkunft das Lernen beibringen, damit Menschen ihr Leben lang mühelos und vielleicht sogar mit Genuß lernen.

Wer sich vom Grundkonsens verabschiedet, daß uns die Wissenschaft hilft, wer es besser weiß als Menschen, die täglich daran arbeiten, uns mit möglichst gesichertem Wissen zu versorgen, wer diesen Menschen von vor­ne­he­r­ein andere Absichten unterstellt, dem fällt es sicher auch leicht, sich von anderen Grundsätzen zu verabschieden, die unser zivilisiertes Zusammenleben regeln. Zum Beispiel, daß alle Menschen das gleiche Recht auf Leben und Glück haben.

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Erstellt: 27. Oktober 2020 21:57
Geändert: 29. Oktober 2020 02:54
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