© SJB e.V. Berlin - Foto: Zacke Berlin 2010Dieser wieder private Text sollte eigentlich eine Kurzgeschichte werden. Nach dem von der AfD vorgegebenem, riesigen Scheinproblem der illegalen Migration, wird jetzt die Abschaffung des Bürgergeldes und die Wiedereinführung von Sanktionen im Stile von Hartz IV diskutiert. Das ist äußerst schäbig von einer Regierung, die solche Debatten als Ablenkung von den wirklichen Problemen unseres Landes nutzt: Klimawandel und Armut. Statt sich mit der immer weiter auseinander klaffenden sozialen Schere zu befassen, werden nicht einmal jene Steuern eingetrieben, die Wohlhabende nach den derzeitigen Steuergesetzen zahlen müßten. Das würde weit über 100 Milliarden in den jährlichen Bundeshaushalt spülen, womit Mittel zum Mitigieren des Klimawandels und der sozialen Unterschiede zur Verfügung stünden. Ganz zu schweigen von einer angemessenen Steuererhöhung für die Reichen, um die Infrastruktur klimagerecht in Stand zu setzten und die Ukraine weiterhin gut zu unterstützen.
Der größte Hohn an Hartz IV war, daß dieses Gesetz nicht umbenannt wurde, als Anfang 2007 der Namensgeber wegen Veruntreuung von ungefähr 2,6 Millionen Euro zu milden zwei Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe von 576.000 Euro verurteilt wurde, während über Hartz IV Empfänger:innen stets die Angst vor Sanktionen bis hin zum Entzug der Existenzgrundlage schwebte. Gleichzeitig wurden sie gegen schlecht bezahlte Arbeiter:innen ausgespielt, bzw. diese wurden gegen sie aufgehetzt, weil sich wegen Hartz IV Arbeiten angeblich nicht mehr lohnen würde. Das stimmte damals wie heute nicht.
Dieser Text sollte als Kurzgeschichte nicht mit einer solchen Einleitung beginnen. Ihr Schwerpunkt sollte keine Abrechnung mit Hartz IV werden, sondern eine Schilderung von Ereignissen während einer Maßnahme mit Aufwandsentschädigung (MAE), die allgemein als 1-Euro Job bezeichnet wurde. Diese Form von Zwangsarbeit brachte kaum jemand in reguläre Jobs und sie nahm keine Rücksicht auf das, was sich im privaten Leben mancher Teilnehmer:innen abspielte.
Drei Todesfälle und das Spiel mit einer Fontäne
© SJB e.V. Berlin - Foto: Zacke Berlin 2010Ich könnte viel über dieses mehr oder weniger turbulente Projekt erzählen, habe aber nie unter dem Aspekt darauf geschaut, daß in dessen Umfeld in dieser Zeit drei Menschen starben.
Mit der ersten Toten verband mich ein gemeinsamer Lieblingssong. Ein heftiges Stück der Ost-Berliner Punk-Band Feeling B. Der wortkarge Text mit vielen Wiederholungen ist offenbar auf Polnisch gesungen. Es geht um nationale Freiheit, vergiftete Städte, Diskriminierung, Segregation, Haß und Gewalt. Was werden zukünftige Generation, was werden unsere Kinder sagen? Der Titel des Songs würde heutzutage womöglich vermeintliche Antisemitismus-Diskussionen auslösen: Izrael. Die Musik, zwischen Reggae und Heavy Metal, ist so krass wie ihr Selbstmord. Sie kam aus der Psychiatrie, die Ärzte hatten ihr Urlaub gewährt. Plötzlich stand sie auf dem Fensterbrett und sagte zu ihrem Freund: Laß uns zusammen Schluß machen. Schließlich sprang sie vor seinen Augen allein in den Tod.
Er nahm auch an dieser Maßnahme teil und obwohl er mich nicht kannte, vertraute er mir diese schlimme Geschichte an. Heute frage ich mich, ob sie nicht unter dem Einfluß von Prozac oder Zoloft stand. Daß diese beiden Antidepressiva Selbstmordimpulse auslösen oder verstärken können, ist nicht auszuschließen. Auch das wäre eine vergiftete Diskussion unseres Zeitalters, in welchem das Vertrauen in die Wissenschaft mutwillig zerstört wird.
Ich und eine andere Teilnehmerin, von der ich einiges lernte, da sie eine Ausbildung zur Fotografin genossen hatte, halfen ihm so gut wir konnten, die Maßnahme zu überstehen. Ich gehe davon aus, daß er ein begnadeter Künstler ist. Leider habe ich nur seine Fotos gesehen und nie Musik von ihm gehört. Er tat etwas, worauf ich nie gekommen wäre. Er speicherte alle seine Fotos, die er mir zur Bearbeitung und zum Ausdrucken übergab, in einer einzigen GIMP-Datei als Ebenen. Leider haben wir uns nach der Maßnahme aus den Augen verloren, was eher an mir als an ihm lag.
Wir hatten übrigens auch einen ehemaligen Pressefotografen in der Maßnahme. Auch mit ihm war ich unterwegs. Wie sich das anfühlt, zur "Wiedergewöhnung" an Arbeit und regelmäßiges Aufstehen in so ein Projekt gesteckt zu werden, wäre eine andere Geschichte. Eine ähnliche hat in einer anderen Maßnahme sogar zu heftigen Konflikten geführt, weil ich die gleiche Arbeit wie eine gelernte Bibliothekarin machen durfte, deren Ausbildung bei uns nicht anerkannt wurde. Auch hier sagt Dir das Amt, daß Du, egal wer Du mal warst, als Transferempfänger:in nichts wert bist.
Im Leben meiner persönlichen Lehrerin spielte sich während der Maßnahme ebenfalls ein Drama ab. Sie war verheiratet und nach einer Trennung hatte ihr Mann ein Kind mit einer anderen Frau. Sie kamen wieder zusammen und er brachte das Kind mit, das eine sehr enge Bindung zu ihn und nicht wie das Jugendamt wollte, zur leiblichen Mutter hatte. Natürlich vermißte es seine Mutter, die als Künstlerin nie für ihn da war, wollte aber bei den beiden bleiben. Es kam zu einem aufreibenden Sorgerechtsstreit, in dessen Verlauf das Kind früh morgens wie ein Krimineller von der Polizei abgeholt und zur Mutter gebracht wurde. Diese verlor den Sorgerechtsstreit trotzdem. Der Vater bekam es zugesprochen und verstarb leider nicht viel später.
Er hatte um das Kind bis zu seinem letzten Herzschlag gekämpft. Er wußte um seinen Gesundheitszustand. Ich habe ihn leider nie kennengelernt. Ich habe nur einmal kurz mit ihm telefoniert. Den Sohnemann hab ich einmal kurz gesehen. Das Herz des Vaters war stark geschädigt, außerdem litt er unter den chronischen Folgen einer Belastung mit Holzschutzmitteln. Er hatte mit diesen nicht nur beruflich zu tun gehabt. Die Familie wohnte eine Zeit lang in einem Haus, in welchem aufgrund einer unsachgemäßen Renovierung des Dachstuhles Holzschutzmittel von der Decke tropften. Seine Frau erkrankte damals ebenfalls, wurde aber wieder gesund.
Für seine Frau, die dem Kind auch ohne Vater ein vertrautes und liebevolles Zuhause bot, fing der Kampf um das Sorgerecht erneut an, da sie nicht die leibliche Mutter ist. Sie bekam es schließlich, ihr wurde aber ein amtlicher Vormund beigestellt. Soweit ich es mitbekommen habe, arbeitet sie heute mit Kindern.
Der dritte Tote ist mir völlig unbekannt. Es ist eine nicht weniger traurige Geschichte. Auch weiß ich nichts über die Todesumstände, gehe aber davon aus, daß es sich um einen eher jungen Menschen handelte.
Ich war mit meiner Fotografie-Lehrerin unterwegs. Wir kamen selten da an, wo wir hin wollten, da es schon unterwegs eine Menge zu fotografieren gab. Manchmal waren es die Kacheln oder der Stuck in einem Hausflur oder die Sonne brachte gerade blaue Glassplitter einer zerdepperten Flasche auf dem Trottoir kurz, aber wunderbar zum Leuchten. Diese Momente galt es zu erwischen und genau das habe ich neben technischen Kniffen von ihr gelernt. Leider klappt das mit dem richtigen Moment nicht immer.
Wir erreichten einen kleinen Park mit einem Brunnen. Aus einem großen Granitstein ragte eine Fontäne. Das heißt, aus einem kurzen Rohr plätschere das Wasser mit geringem Druck empor. Das war ein willkommenes Spielzeug für ein Kind, das auf dem Stein geklettert war und immer wieder das Rohr mit einem Stück Stoff verschloß. Mit der Hand ging es auch, zumindest teilweise. Eine Frau hatte ihren Kopf wie auf einem Kissen auf dem Granitstein abgelegt und genoß, wie ihr das Wasser durchs Haar floß. Nach einer Weile beteiligten sich sowohl diese Frau als auch meine Begleiterin am Spiel mit dem Wasser und plötzlich gab es ein wunderschönes Bild: Mehrere übereinander gelegte große und kleine Hände drückten das Wasser der Fontäne nach unten. Der Anblick hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt.
Leider habe ich dieses Foto in meiner Sammlung nicht gefunden. Das heißt, ich habe als beobachtender Fotograf schlichtweg verpennt, auf den Auslöser zu drücken. Ich habe nicht nur aus arbeitsrechtlichen Gründen kein Copyright an diesem imaginären Foto, da es im Rahmen des Projektes gemacht worden wäre, sondern es existiert überhaupt nicht. Das ist jedoch ein kleiner Verlust im Vergleich zu dem, was dieser fremden Frau widerfuhr.
© SJB e.V. Berlin - Foto: Zacke Berlin 2010--
Die folgende Quellensammlung ist unvollständig. Das Fotoprojekt fand 2010 statt. Da seit 2016 die Europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gilt, habe ich auf bestimmte Quellenangaben als auch auf Personennamen verzichtet. Auch die Fotos sind so bearbeitet, daß keine Personen identifiziert werden können.
https://www.n-tv.de/politik/Da-hat-die-Finanzlobby-ganze-Arbeit-geleistet-id30007669.html
https://rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/zwei-jahre-auf-bewaehrung-fuer-peter-hartz_aid-11379149
https://taz.de/Peter-Hartz-verurteilt/!3200226/
Feeling B - Wir Kriegen Euch Alle, 6. Song: Izrael
https://www.sueddeutsche.de/wissen/anti-depressiva-moegliche-nebenwirkung-selbstmord-1.912958
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/psychiatrie-deprimierend-1.2652676

















