Initiative Pro Netzneutralität

Den biopsychiatrischen Knoten lösen: Die zukünftige Geschichte der Bewegung einer radikalen Geistesheilkunde

26. Mai 2013 23:49

Autor Sascha Altman DuBrul, 19.April 2010 für The Icarus Project
Übersetzung: BrunO



© Foto: abrinsky CC: BY-NC-SA via flickr 

Kaum etwas macht uns stärker, als auf dem was wir als unsere persönlichen Dämonen wahrgenommen haben, das Markenzeichen des Herstellers zu erkennen.
- Aurora Levins Morales

Oft schlug mein Herz schnell, als ich diese Worte schrieb. Ich recherchierte für diesen Artikel mit der Absicht, diese Geschichte, die ich mit mir herumtrage, zu verstehen, nämlich jemand zu sein, der als verrückt gilt, der sich mit dem herum schlägt, was diese Gesellschaft für eine schwere "Störung des Gehirnes" hält. Meine Hoffnung besteht darin, daß Sie, nachdem Sie meine Worte gelesen haben, über mehr Werkzeuge verfügen, diese überkomplizierte Welt um sich herum zu analysieren. Werkzeuge, um Ansatzpunkte für einen Kontakt zu Menschen zu finden, von denen Sie sich vielleicht nie vorstellen konnten, viel mit ihnen gemeinsam zu haben. Werkzeuge, um die psychischen Mauern niederzureißen, die uns daran hindern, uns selbst und andere zu verstehen. Es gehört zum Aufbau einer Bewegung, die wir in diesem Fall genau so gut die Irrenbewegung nennen können, uns ganz bewußt unsere Erfahrungen und unsere Geschichte zu erzählen. Dies ist nicht meine persönliche Geschichte aber eine, welche im Leben von uns allen die größere Geschichte der Psychiatrie mit jener der Ökonomie verbindet. Das Wichtigste worauf wir immer achten müssen ist, daß es sich weitgehend um eine aktuell stattfindende Geschichte handelt, in der wir alle vorkommen. Ich hoffe, daß wir dieses Wissen dafür nutzen können, unser kollektives Bewußtsein zu stärken und das nächste Kapitel in schillernden Farben und mit dem visionären Feuer unserer wachsenden verrückten Gemeinschaft gemeinsam zu schreiben.
-- Sascha Altman DuBrul

Das biomedizinische Modell der Psychiatrie oder die "Biopsychiatrie" stützt sich auf den Glauben, daß Geisteskrankheiten die Folge von chemischen Störungen im Gehirn sind. Das ist eigentlich eine sehr neue Idee, aber sie wurde innerhalb einer kurzen Zeit von vielen Menschen weltweit als plausibel anerkannt. Der Glaube, daß unsere Unzufriedenheit und Krankheit das Ergebnis unserer individuellen "Hirnchemie" ist, hat viele von uns immer mehr gegen den Gedanken desensibilisiert, daß unsere Gefühle und Erfahrungen oft auf soziale und politische Probleme zurückzuführen sind. Unverhofft führen mir eine medizinisch angehauchte Sprache im Munde, reden von Neurotransmittern und Serotonin, was letztendlich den Kern von so vielen Problemen nicht trifft, die wir um uns herum sehen. Wie es dazu kam, ist wichtig zu verstehen, wenn wir es ändern wollen. In diesem Artikel möchte ich erklären, welche mächtigen, politischen und ökonomischen Kräfte es gab, auf die ich mich hier als Neoliberalismus beziehe, der in den 80er Jahren anfing und beim drastischen Paradigmenwechsel in der Psychiatrie, zu dem was wir heute als Biopsychiatrie kennen, eine große Rolle gespielt hat. Ich möchte am Beispiel der Depression für Sie eine grobe Skizze der Situation zeichnen, in der Hoffnung, daß es Sie anregt, diese Geschichte weiter zu ergründen. Und ich werde mit ein paar Gedanken zur aufkommenden Bewegung einer radikalen Geistesheilkunde abschließen, bei der Sie sicher mitmachen oder über die Sie wenigstens Bescheid wissen wollen, damit Sie andere zu uns schicken können.



1980 war das Jahr

1980 ist ein gutes Datum, um die aktuellen Veränderungen in unseren Konzeptionen von geistiger Gesundheit und Krankheit zu verstehen. 1980 veröffentlichte die American Psychiatric Association die dritte Ausgabe ihres Diagnostischen und Statistischen Manuals (DSM-III). Obwohl der DSM absichtlich in einem Stil geschrieben war, der einen wissenschaftlich sachlichen Eindruck erweckte, war er das Produkt einer bestimmten Richtung der Psychiatrie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt mit einer bestimmten Weltsicht, die zum biomedizinischen Modell tendierte.[i] Die 1970er Jahre waren eine gesellschaftlich brisante Zeit: Die Disziplin der Psychiatrie wurde aus allen Richtungen angegriffen, sowohl dafür, repressiv als auch "unwissenschaftlich" zu sein. Seine Macher verpackten den DSM wissenschaftlich und neutral, indem sie das Diagnose-Konzept von einer undefinierten und diffusen Sammlung an Beschreibungen, die sich auf die Freud'sche Psychoanalyse stützten, zu einer detaillierten Symptom-Checkliste umstrickten. Dank der massiven Unterstützung der pharmazeutischen Industrie, ist der DSM heute als "Bibel" der Psychiatrie anerkannt und wird weltweit als Diagnose-Werkzeug eingesetzt.[ii]

1980 war auch das Jahr, in welchem Ronald Reagan in den USA zum Präsidenten gewählt wurde, was zu der uns heute bekannten "neoliberalen Revolution" führte. Der ältere "Liberalismus" geht auf eine Philosophie des 19. Jahrhunderts zurück, die für minimales Eingreifen des Staates und für freien Handel eintritt. Die Schrecken der Depression, das Gespenst des Faschismus in Europa und eine starke Arbeiterbewegung machten die Idee eines Kapitalismus mit einem unbeschränkten Markt in den 1930er Jahren weniger attraktiv. Der Geschichtsabschnitt von den 1930er Jahren zu den 1970er Jahren erlebte in den USA und in Großbritannien das Aufkommen der Wohlfahrtsstaaten, eine Philosophie welche großen Wert auf soziale Sicherheit, öffentliche Bildung und Wohlstand legte. Die 1980er brachten eine Liberalisierung von Handel, Unternehmen und Industrie, eine massive Vermögensumverteilung von Öffentlich nach Privat, ein enormes Anwachsen der Macht multinationaler Konzerne und den Sieg der Konsumenten-Kultur.[iii]

Augenscheinlich handelt es sich um große Angelegenheiten, die viel Zeit und Raum benötigen, um sich voll zu entfalten. Genau hier werde ich mich auf ein Beispiel konzentrieren, wie sich Biopsychiatrie und Neoliberalismus verbündeten, um in unser Leben einzugreifen: das sich wandelnde Verständnis von "Depression". Wie ich zeigen möchte, wird in den westlichen Kulturen und zunehmend auch in der übrigen Welt immer häufiger ein Zusammenhang zwischen menschlicher Traurigkeit und Verzweiflung und der Chemie im Gehirn des Individuums hergestellt. Obwohl es absolut keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, daß dies der Fall ist[iv], hilft die biopsychiatrische Weltanschauung den großen Firmen ihre Macht aufrecht zu erhalten und bedient die Bedürfnisse einer marktbasierten Ökonomie.



Die Geburt des DSM: Wie Traurigkeit eine "Gehirnerkrankung" wurde

Die Anfänge der modernen Psychiatrie gehen bis zum Beginn der industriellen Revolution zurück und es ist nicht verkehrt, sie als Antwort auf die massive Umorganisation einer gesamten Gesellschaft nach Marktprinzipien zu sehen, welche traditionellen Herangehensweisen Kranke zu pflegen und älteren Unterstützungs-Netzwerken und Heilverfahren den Boden entzogen.[v] Doch um diesen Teil der Geschichte zu erzählen, müssen wir de facto mit den 1940er Jahren beginnen.

Am Ende des zweiten Weltkrieges dominierte die Psychoanalyse das Gebiet der Psychiatrie vollständig, lieferte die führenden Erklärungen für Geisteskrankheiten und deren Behandlungsmethoden.[vi] Die 1960er Jahre waren eine Zeit großer sozialer und politischer Umwälzungen, welche die Landschaft der Vorstellungen des eigenen Selbst und wie Gesundheit und Wohlbefinden gesellschaftlich aussehen, völlig veränderten.[vii] In den 1970er Jahren hatten dann psychoanalytische Schulen und verschiedene Kliniker viele unterschiedliche Vorstellungen über die grundlegende Natur, über Ursachen und Behandlung von geistigen Erkrankungen. Es gab eine wachsende Anti-Psychiatrie Bewegung, welche die Psychiatrie beschuldigte, die medizinische Behandlung hauptsächlich zum Zweck der sozialen Kontrolle einzusetzen.[viii] Es gab vielfach publizierte Experimente, welche eine zu 100 Prozent fehlende Zuverlässigkeit der in psychiatrischen Krankenhäusern gestellten Diagnosen nachwiesen.[ix] Die Legitimation der Psychiatrie als medizinische Disziplin wurde als gefährdet angesehen. Genau in diesem historischen Moment wurde der DSM-III entwickelt.

Der DSM-III war ein Versuch, ein universelles Handbuch für die psychiatrische Diagnose zu erstellen. Es wurde von einer Psychiater-Schule geschrieben, die ihre Mission darin sahen, die Psychiatrie von Vorurteilen und Aberglaube zu befreien, indem sie diese in eine "objektive Wissenschaft" umwandeln.[x] Ihre Absicht war, streng wissenschaftlich und "theorieneutral" zu sein, was bedeutet, daß behauptet wurde, keine bestimmte Theorie oder Ursache zu bevorzugen, weshalb ein Patient geisteskrank war. Die Idee bestand darin, Erkrankungen anhand von Symptomen und nicht von Ursachen zu erklären. "Dies verschob psychiatrische Diagnosen von vage definierten und ungenau begründeten psychoanalytischen Beschreibungen zu detaillierten Symptom-Checklisten - jede mit genauen Einschluß- und Ausschluß-Kriterien."[xi] Doch bei ihrem Versuch, wissenschaftlich neutral zu sein, ließ der DSM-III keinen Raum für irgendwelche Vorstellungen von mentalen Notlagen, die nicht als "Erkrankung" und "Krankheit" angesehen wurden. Desweiteren legte die Vorstellung von "wissenschaftlicher Objektivität" die Macht der Bestimmung von Gesundsein und Gesundheit in die Hände der Psychiater, die eine Sprache benutzen, welche zwar "objektiv" klang, in Wirklichkeit aber von der westlichen Wissenschaftspraxis kulturell geprägt war. Die neuen "objektiven" Diagnose-Kriterien funktionierten besser, wenn es definierte Behandlungen für die "Erkrankungen" gab. Wie sich heraus stellte, war dies für die Bilanzen der Pharma-Konzerne sehr vorteilhaft, aber auch für die Öffnung der Tür zu einem drastischen Paradigmen-Wechsel.[xii]

Nehmen wir uns nun dem Fall der "Depression" an. So wie die DSM Diagnose-Kriterien einer schwere Depression formuliert sind, können sie nicht korrekt zwischen zwei Typen von Depression unterscheiden: "normale Traurigkeit" und "Melancholie". Diese Diagnosen haben gemeinsame Symptome, zu denen "Traurigkeit, Schlaflosigkeit, sozialer Rückzug, Appetitverlust und der Interessenverlust an gewohnten Tätigkeiten" gehören.[xiii] Doch der DSM kann nicht zwischen normaler Traurigkeit die eine äußere Ursache hat und einer depressiven Störung ohne diese unterscheiden. Eine unabsichtliche Folge dieser Bemühungen war eine massive Pathologisierung normaler Traurigkeit.



Die Prozac Revolution

Die Entwicklung von Prozac in den 1980er Jahren und die nachfolgende Explosion der Popularität prozacartiger Antidepressiva (SSRI) haben die Situation bei der Behandlung von Depressionen dramatisch verändert. Fast jeder Vierte in den Vereinigten Staaten wurde zwischen 1988 und 2002 auf SSRI Medikation gesetzt.[xiv] Die Medikamente wurden für Depressionen vermarktet und verschrieben, aber die sich wandelnde Definition von "Depression" ließ zu, daß viele Gemütszustände, die früher als normal galten, plötzlich in die Kategorie der Pathologie gesteckt wurden. Die Diagnose einer schweren Depression, die weit verbreitete Symptome wie Traurigkeit, Antriebsschwäche, Schlaflosigkeit als Indikator benutzte, kam der massiven Ausweitung des Marktes für Antidepressiva sehr entgegen, da sie auf große Teile der normalen Bevölkerung zutraf!

Währenddessen waren für viele Leute die Medikamente selbst, zumindest anfänglich, offenbar mit Vorteilen verbunden. Dies führte zu einer Situation, in welcher die anscheinende Wirksamkeit der Medikamente letztendlich die Existenz der "Erkrankung" Depression bewies und im allgemeinen Bewußtsein die Unterschiede zwischen Glücklichsein, Wohlbefinden und in der Gesellschaft funktionieren verwischte. Plötzlich wurde es einfacher und selbstverständlicher, über chemische Stoffe im Hirn, als über soziale Verhältnisse und Familienangelegenheiten zu sprechen. Und dieses Vermögen, Traurigkeit mit einer Pille zu "behandeln", war das bestimmende Merkmal dieser Epoche. Antidepressiva schienen schnell ihren Weg in das Leben vieler Leute zu machen. Ob sie es sich nun ausgesucht hatten oder nicht, es zu probieren, wurde die Einnahme von Antidepressiva eine Frage, die in der Luft lag, eine mögliche Option, die sie wählen konnten.

1997 genehmigte die US Lebens- und Arzneimittelbehörde (FDA) eine direkte Endverbraucher-Werbung für Medikamente und plötzlich waren die Tages- und Abendprogramme voll von "Fragen Sie Ihren Arzt" Pharma-Werbespots.[xv] "Prozac war eines der ersten dieser neuen Psychopharmaka, das unerfreulicherweise ein Platz zwischen Behandlung und Leistungssteigerung, bzw. zwischen Medikament und seelischer Kosmetik einnahm."(Brad Lewis)

Die pharmazeutische Industrie wurde in dieser Zeit ungeheuer mächtig, nicht nur im finanziellen Sinne. Sie wurde zu einer Macht die bestimmt, wie wir über uns selbst und unser Glücklichsein denken. Depression ist ein wichtiges Beispiel. Der Einfluß der pharmazeutischen Industrie erstreckt sich bis weit in Patienten- und Familien-Selbsthilfe-Gruppen hinein, wie z.B. die National Alliance on Mental Illness (NAMI) [Nationaler Bund für Geistige Erkrankungen], Gruppen welche die Auffassung verbreiten, Depression sei eine chemische Mangelerscheinung, die eine Anwendung ihrer Medikamente erfordere. Mittlerweile gibt es großflächige Aufklärungskampagnen wie den National Depression Awareness Day [~Nationaler Aufklärungstag Depression], an dem in Universitäten und Krankenhäusern kostenlose Depressions-Tests angeboten werden.[xvi] Die pharmazeutische Industrie sponsert einen Großteil der klinischen Depressions-Forschung. Kooperationen zwischen Universitäten und Industrie werden immer mehr zu einer Finanzierungsquelle für Universitäten, medizinische Universitäts-Einrichtungen und Kliniken. Nie zuvor wurde diese "biopsychiatrische" Kultur, die unsere Gesundheit und unser Glücklichsein über die Chemie des Gehirnes definiert, derart intensiv von den Massenmedien verbreitet und beworben, in wichtige Institutionen eingebunden und von den Gesetzgebern willig aufgegriffen.[xvii]



Der Aufstieg der Neoliberalen

Im dem selben Zeitraum gab es einen ähnlich komplizierten Paradigmenwechsel im ökonomischen und politischen Bereich. Die 1980er Jahre erlebten den Aufstieg der neoliberalen ökonomischen Ideologie: Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Lohnsenkungen durch Zerschlagen von Gewerkschaften, Abschaffung der Arbeiterrechte, die über viele Jahre des Kampfes errungen worden waren, die Abschaffung vieler Gesundheits- und Umwelt-Regulierungen und den Abbau sozialer Dienste, wie Gesundheitsvorsorge, Bildung und Sozialhilfe.[xviii] Die Folgen dieser Politik: massive Arbeitslosigkeit, unterfinanzierte Schulen, überbelegte Gefängnisse und das Schrumpfen unseres sozialen und ökonomischen Sicherheitsnetzes. Mit all diesen politischen und ökonomischen Veränderungen ging die Umwandlung der Armut von einem sozialen Problem zum persönlichen Versagen einher.[xix]

Ähnlich wie die Ideologie der Biospychiatrie benutzt der Neoliberalismus eine wissenschaftlich klingende Sprache, die von "freiem Handel" und "Selbstregulierung der Märkte" spricht, die oberflächlich als neutral erscheint, jedoch eine Ideologie verbirgt, die den Mächtigen und längst Reichen nutzt. Und die beiden Systeme arbeiten nahtlos zusammen. Die Vorstellung von einer chemischen Unausgewogenheit in unseren Gehirnen säht schnell den Samen des Zweifels über unser eigenes Glücklichsein und Wohlbefinden in unser Bewußtsein. Eine der treibenden Kräfte der Markt-Ökonomie ist Unzufriedenheit - der Markt würde nicht ohne eine Verbraucherkultur funktionieren, die mit Gefühlen des Mangels und dem Fehlen einer persönlichen Erfüllung arbeitet. Doch was wäre, wenn es tatsächlich die Gesellschaft selber und die ungesunden Weltansichten die wir mit uns herum schleppen wären, die uns verrückt und depressiv machen?

"Eine Gesellschaft die immer weiter sozial fragmentiert und getrennt wird, in der die Kluft zwischen Erfolg und Versagen so groß erscheint, in der viele nur die Wahl einer anstrengenden, schlecht bezahlten Arbeit haben, in welcher der einzige billige und einfache Weg seinen Sorgen zu entkommen aus Drogen besteht, macht die Menschen potentiell für eine mentale Desintegration in all seinen Facetten besonders anfällig. Es ist seit längerem bekannt, daß das urbane Leben und soziale Defizite mit einem hohen Maß an mentalen Erkrankungen verbunden sind. Die neoliberale Wirtschafts-Politik wird wird ihre pathogene Wirkung sicherlich noch erhöhen. Indem diese Effekte medizinisch behandelt werden, hilft die Psychiatrie, deren politischen Ursprung zu verschleiern... Die von der neoliberalen Politik hervorgerufene soziale Katastrophe wurde aus der Sprache der persönlichen Probleme weg gewaschen und vergessen."[xx] (Joanna Moncrieff 251-3)

Inzwischen sind sowohl das biopsychiatrische Modell als auch die neoliberale Ökonomie global verbreitet. Es gibt viele Belege, daß sich das biopsychiatrische Paradigma mit Hilfe des DSM und der pharmzeutischen Industrie schnell auf der ganzen Welt verbreitet. Von Hong Kong über Tansania bis Sri Lanka verbreiten sich westliche Konzepte von geistigen Erkrankungen -- Depression, Schizophrenie, Magersucht, PTSD (Post-Traumatic Stress Disorder), was mit einem Verlust an traditionellen Formen des Wissens und Verstehens von Gesundheit und Wohlbefinden verbunden ist.[xxi]





Eine wachsende Bewegung am Schnittpunkt von sozialer Gerechtigkeit und mentaler Gesundheit

Somit stellt sich die Frage: Was können wir tun, um diese Situation zu verändern? Ein Grund, warum die Diskussion so schwierig ist besteht darin, daß diese Situation in den Zuständigkeitsbereich von ganz verschiedenen Disziplinen fällt: von der Biologie zur Neurowissenschaft, Kulturwissenschaft, Ökonomie, Geschichte und Politik. Es ist eine sehr große Herausforderung, den sozialen, politischen und ökonomischen Mißbrauch dessen was man als geistige Gesundheit und Krankheit betrachtet zu entlarven, wenn dies Zustände sind, in denen wir tatsächlich leben und mit denen wir täglich klar kommen müssen. Was ist in uns und was ist außerhalb, in der Gesellschaft? Wie beeinflussen die Sprache und die diagnostischen Kategorien mit denen wir übereinander sprechen die Art wie wir uns selber verstehen? Ist dies ein mehrlagiger Knoten mit riesigen Ausmaßen?

Wenn wir alles unternehmen wollen, um den Zustand des psychiatrischen Gesundheits-Systemes zu verändern, müssen wir damit anfangen, uns einfach einzugestehen, welche grundlegenden Mängel das derzeitige Modell hat - wie wenig Raum es für alternative Ansichten über Gesundheit und Wohlbefinden läßt, wie es das Wissen von Wissenschaftlern und Experten bevorzugt und das was lokale Gemeinschaften, Familien und alternative Heiler tun können schlecht macht. Wir müssen eindeutiger zwischen der Nützlichkeit mancher moderner psychiatrischer Medikation und dem reduktionistischen biopsychiatrischen Paradigma unterscheiden, welches unsere Gefühle und unser Verhalten auf Chemikalien und Neurotransmitter reduziert. Wir müssen öffentlich über den Zusammenhang zwischen einer ungesunden ökonomischen Politik, der pharmazeutischen Industrie und unserer geistigen Gesundheit sprechen. Wir müssen endlich neu definieren, was es wirklich bedeutet, geistig gesund zu sein und zwar nicht nur auf einer individuellen Ebene, sondern auf einer kollektiven, gemeinschaftlichen und sogar weltweiten. Wir müssen die Ideologie der Krankheit und ihrer Behandlung verlassen und zu öffentlicher Gesundheit und Krankheitsprävention gelangen. Wir müssen die eigentlichen Ursachen unserer seelischen Notlage genauer und kritischer untersuchen, denn es ist wahrscheinlich, daß viele Ursachen der selben Ideologie geschuldet sind, welche die derzeitigen biopsychiatrischen Lösungen anbietet.

Wenn ich über Lösungen für dieses Schlamassel nachdenke, stelle ich mir eine lebendige soziale und politische Bewegung aus Zusammenschlüssen von lokal verwurzelten Nachbarschafts-Initiativen und in diesem Bereich beruflich tätigen Menschen vor - Menschen, welche die Bedeutung der ökonomischen Gerechtigkeit und der globalen Solidarität und der dringenden Notwendigkeit, mentale Vielfalt zu akzeptieren, verstehen und nicht in die Falle tappen, zu versuchen, in eine Gesellschaft zu passen, die offensichtlich krank ist. Ich stelle mir eine Bewegung vor, welche die Weisheit des menschlichen Geistes besitzt und ehrt und die verflochtene Komplexität all dieser Dinge versteht, die wir geistige Gesundheit und Wohlbefinden nennen. Ich stelle mir eine Bewegung vor, welche die Bedeutung der Sprache, des Geschichtenerzählens und die Kenntnis der eigenen Geschichte versteht. Weil die Probleme derart verwirrend und verflochten sind, würde ich gerne Fokusgruppen aus Schülern und Aktivisten sehen, die helfen können, daß sich relevante Theorien und Geschichten leichter unter einer größeren Anzahl von Menschen verbreiten. Ich sehe kreative Selbstorganisation an Universitäten und Hochschulen, die sich gegen die Auswirkungen einer von Konsumismus und Intoleranz gegenüber Unterschieden triefenden Kultur wehrt. Ich sehe Volksbildungs-Veranstaltungen zu Depression und Ökonomie: Wie würde dieser Artikel wohl aussehen, wenn er eine Puppentheater-Aufführung wäre?

Ganz grundsätzlich werden wir, wenn wir das aktuelle Paradigma der Psychiatrie abschaffen wollen, eine Bewegung brauchen, die sowohl die politische Gewitztheit besitzt, zu verstehen wie man das System bekämpft, die aber auch über Möglichkeiten verfügt, sich gegenseitig zu unterstützen, während die Welt noch verrückter wird. Ich denke, einige der Antworten werden sich daraus ergeben, noch einmal einen Blick auf nützliche Erscheinungen der Gegenkultur-Bewegungen zu werfen, die in den 1960er und 70er Jahren die Mainstream-Modelle der Psychiatrie in Frage gestellt haben. Von der humanistischen und Jungschen Psychologie zu Selbsterfahrungsgruppen und Gestalt-Therapie, von den feministischen, bewußtseinsbildenen Gruppen zur radikaleren "Human Potential" Bewegung (HPM), gab es viele starke Ideen, die aus dem Zusammentreffen fernöstlicher spiritueller Philosophien mit westlichen Psychotherapien entstanden, die von der politisch aufgeladenen Atmosphäre jener Zeit genährt wurden und die im 21. Jahrhundert anscheinend nahezu vollständig aus dem herrschenden Dialog zwischen Psychiatrie und Psychologie ausgemerzt worden sind.[xxii] Obwohl diese jungen Bewegungen eindeutig Mängel aufwiesen, ihre Spuren offenbar ausgelöscht oder sie verwässert in einen kapitalismusfreundlichen New Age Markt umgeleitet wurden, denke ich, daß es ein lohnendes Projekt wäre, heraus zu finden, welche ihrer Ansätze und Methoden für die Verwendung in einer zeitgenössischen radikalen Bewegung für mentale Gesundheit nützlich wären.

Mich inspiriert es sehr, wenn ich mir die Entstehung der wachsenden Gemeinschaft um das Icarus Project ansehe. Icarus fing 2002 als ein Web-Portal an, als Versuch, einen alternativen Raum zu schaffen, wo Menschen, die versuchen mit schweren mentalen Gesundheitsproblemen klar zu kommen, über ihren Kampf reden und lokale Gemeinschaften gründen können. Icarus geht auf das nordamerikanische Anarchisten-Netzwerk zurück und obwohl es sich weit verzweigt und ausgebreitet hat, blieb das Projekt bei seiner radikalen Gesellschafts-Analyse und wendet sich an jene von uns, die für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Für jene von uns, welche die außerordentliche Bedeutung einer radikalen Analyse zum Verständnis von geistiger Gesundheit erkennen, ist Icarus eine Oase verrückter Vernunft und Gemeinschaft. Heute wird Icarus von einem Organisations-Kollektiv betrieben und hat weltweit viele tausend Mitglieder. Wenn Sie andere suchen, um bei diesen Themen mitzureden, mit zu organisieren, Gemeinschaften mit aufzubauen, empfehle ich hier zu beginnen: http://theicarusproject.net

Verrückte, liebe Grüße

Sascha
scatter@theicarusproject.net



[i] Lewis

[ii] Watters

[iii] Giroux

[iv] Fabrega

[v] Foucault

[vi] Curtis2

[vii] Curtis3

[viii] Howwitz 101

[ix] Horwitz 98

[x] Lewis 5

[xi] Lewis 97

[xii] Thomas 23

[xiii] Horwitz 210

[xiv] Lewis 122

[xv] Horwitz 185

[xvi] Horwitz 215

[xvii] Horwitz 187

[xviii] Martinez

[xix] Brown

[xx] Moncrieff 251-3

[xxi] Watters

[xxii] Kripal 85


Bibliographie

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der Originalartikel Unraveling the Biopsychiatric Knot: the Future History of the Radical Mental Health Movement wurde auf The Icarus Project unter Creative Commons: BY-NC-ND (Namensnennung, keine kommerzielle Verwendung, keine ableiteten Werke) veröffentlicht. Abweichend von dieser Lizenz hat mir der Autor die Übersetzung erlaubt. Für diese gibt das Lizenzmodell dieses Blogs ausdrücklich nicht! Anfragen zur Weiterverwendung sind an den Autor zu richten.


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Erstellt: 26. Mai 2013 23:49
Geändert: 27. Mai 2013 20:10
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