Initiative Pro Netzneutralität

Totalitäre Demokratie

28. März 2011 21:53

Autor: Richard Lichtman, 18.03.2011 für  t r u t h o u t
Übersetzung: BrunO

Das folgende ist offen gesagt keine umfassende Analyse, sondern soll andere dazu auffordern, ihr eigenes Verständnis der Situation darzulegen, in der wir uns befinden.

Jene von uns, die darüber spekuliert haben, wie es zum Faschismus kommen könnte, ob und wann dies geschieht, haben die Möglichkeit nicht ausreichend in Betracht gezogen, daß dieser über rechtsstaatliche Verfahren und “frei gewählte” Volksvertreter Einzug halten wird. Wir tendierten zu sehr zu dramatischen Varianten dieses Ereignisses, wie wir sie aus dem Kino kennen. Vielleicht haben uns Bilder von Aliens aus anderen Galaxien beeinflußt, die unsere Körper kapern (Film: "Invasion of the Body Snatchers") oder von solchen, wie sie in "Independence Day" beschrieben werden. Oft herrscht die exogame Vorstellung, daß die Katastrophe von außen kommen muß, egal ob man das geographisch, kulturell oder psychologisch definiert. Es sind immer jene dort und nicht wir, welche für das Unglück verantwortlich sind. Und selbst wenn die Invasion sterbliche Gestalt an nimmt, tendierten wir eher dazu, unsere Gegenspieler auf eine Art zu sehen, die ihnen jegliches Menschsein abspricht.

Nun sehen wir uns der Tatsache gegenüber, daß die Vertreter des kontemporären Totalitarismus Menschen sind, die auf erstaunliche Weise wie wir sind – die zwar andere politische Ansichten haben – den Alltag, das Aufstehen und das Schlafengehen routinemäßig genau so erledigen, wie wir es tun würden, die im immer wiederkehrenden Normalen genau so aufgehen wie wir. Und trotzdem sind dies genau jene Leute, die offenbar ganz beiläufig das was wir unter Demokratie verstehen aufheben würden, während sie gleichzeitig darauf bestehen, nur den Erfordernissen eines Demokratischen Systems nachzukommen, wie es durch die Gesetze definiert ist. In Wisconsin besteht die Republikanische Partei beispielsweise darauf, daß sie von den Bürgern in einer fairen Wahl gewählt worden ist und nun dem Mandat das damit aufgestellt wurde nachkommt, so für das allgemeine Wohl zu sorgen, wie sie es versteht. Und sind sie nach dem Ereignissen die sie an die Macht gebracht haben nicht rechtmäßig dazu berechtigt?

Alles hängt davon ab, was man und dem Begriff “rechtmäßig” versteht. In seiner grundlegenden Form richtete sich alles was in Amerika geschah nach den Prinzipien, welche die Väter der Verfassung als “rechtmäßig” betrachteten, einschließlich des Rechts der Gesetzgebung und der Gerichte, die ursprüngliche Bedeutung zu interpretieren und danach so zu reinterpretieren, wie es ihnen angemessen erscheint. An den Gerichtsentscheidungen die in den Fällen Bush gegen Gore und gegen Citizens United ergingen, waren neun Richter beteiligt, entschieden wurden sie von fünf. [Anmerkung: Busch gegen Gore – 7:2!, Citizens United gegen Federal Election Commission – 5:4] Dieser Prozeß wurde von den Drahtziehern angeordnet und danach pflichtgemäß durchgeführt. Doch indem ich die formale Rechtmäßigkeit dieser Entscheidungen anerkenne, habe ich zu keinem Zeitpunkt vor zu bestreiten, daß diese Verfahren in jeglichem Sinne des beabsichtigten Zweckes der Verfassung und ihren verschiedenen historischen Ergänzungen etwas sind, das mir mit gutem Recht als eine Korrumpierung des “Geistes der Demokratie” betrachten können. Als Ergebnis einer sozialpolitischen Entwicklung war die [US-]Verfassung eine Verkörperung dessen, was die fortschrittlichste Auffassung des 18. Jahrhunderts über das Funktionieren einer Regierung darstellte. Der ursprüngliche Ansatz der Verfassungsgebung sollte nie ein Dokument hervor bringen, das völlig unabhängig von der Kultur und Gesellschaft besteht, die es geschaffen hat. Die Verfassung wurde nicht de novo, d.h. völlig neu geschaffen, sondern erwuchs aus einem allgemeinen Verständnis vom übergeordneten Zweck des gesellschaftlichen Lebens, seinen Verpflichtungen und Werten.

Deshalb geht der Verfassung eine Präambel voraus, welche den Zweck des nachfolgenden Dokumentes darlegt und bekundet, daß es dessen ultimative Absicht ist:

eine vollkommere Bundesgemeinschaft zu bilden, ein Rechtssystem einzuführen, Ruhe im Inneren sicher zu stellen, die Landesverteidigung zu gewährleisten, den allgemeinen Wohlstand zu fördern, die Vorzüge der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu bewahren.

Ich wiederhole diesen Aspekt der Verfassungsgebung, denn er wurde zu einem Trick der rechten, libertären, negativen Auffassung von Freiheit, um zu behaupten, wir wären am freiesten, wenn wir tun und lassen können, was wir wollen. Die Präambel nimmt einen völlig entgegengesetzen Standpunkt ein und steht vor der Verfassung – sie ist sicherlich keine Aufzählung, was die Regierung nicht tun soll, sondern stattdessen eine ausführliche Darstellung dessen was getan werden muß, damit die Regierung als rechtmäßig angesehen werden kann. Das Gesetz der Grundrechte (Bill of Rights) muß im Licht dieser Überlegungen betrachtet werden.

Obwohl ich die Bedeutung der Präambel bekräftige, liegt es mir fern, die grundlegenden Unzulänglichkeiten zu leugnen, die ihre pathetischen Sprache verbirgt. Es ist unverkennbar, daß das Verfassungsdokument einer Klassenstruktur entstammt, die der Wohlstandswahrung und Erhaltung der Machtdominanz dient, auch ist nicht vorgesehen, die Macht- und Ausbeutungsstrukturen zu beseitigen, die ihre Grundlage bilden. Es ist lediglich meine Absicht zu betonen, daß die Verfassung zum Erlangen eines Zweckes gestaltet wurde, und auf diesen Zweck berufe ich mich als ihre Substanz, ihren Geist und ihre Kultur. Und es sollte erwähnt werden, daß es zwei Möglichkeiten gibt, diese Kultur zu beurteilen: ob ihre Vision vom guten Leben eine außergewöhnliche ist und ob sie auf alle ihre Teilhaber ausgedehnt wird oder nur ein paar wenigen Privilegierten vorbehalten bleibt. Meine eigene Meinung ist, daß die ursprüngliche Absicht in der ersten Variante eindeutig erfolgreicher als in der zweiten ist. Zu ihrer Zeit stand sie für eine weitergehende Auffassung von menschlicher Erfüllung als allgemein üblich war, obwohl ihre Vorstellung von Gleichheit eindeutig einer Klassengesellschaft entstammt.

Das ursprüngliche System der Klassenvorherrschaft, das in Laufe der Jahre bezüglich Rasse und Geschlecht “per Gesetz” geändert wurde, hat man nie aufgehoben. Wenn es also zu weiteren Veränderung gemäß einer gerechteren Definition von Gleichheit im amerikanischen Leben kam, fanden sie innerhalb der Grenzen des bestehenden Systemes der Klassengesellschaft statt, das es von Anfang an gab. Die aktuelle Struktur unterscheidet sich in ihrer Substanz eindeutig von den frühesten Ausformungen der Klassengesellschaft, da im ökonomische System in dem die Klassen angesiedelt sind offensichtlich grundlegende Veränderungen stattgefunden haben. Seit der Zeit des Bürgerkrieges und der Bildung des amerikanisches Kolosses und seiner dualen Ökonomie aus Konzernherrschaft und sozialem Rest (Wohlfahrtsstaat) wurde der Kurs auf kapitalistische Herrschaft ausgerichtet. Welche weitere “fortschrittliche” Veränderungen auch immer zustande kamen, sie büßten ihr volles Potential auf Grund der Tendenz zur sich ausweitenden Kontrolle der Konzerne ein. Bei diesem Vorgang wurde die Demokratie zunehmend korrumpiert, wie Sheldon Wolin in "Democracy Inc.: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism" (Gemanagte Demokratie und das Schreckgespenst des invertierten Totalitarismus) feststellt, ein Werk das eklatant ignoriert wurde.

Die Vereinigten Staaten wurden zum Vorführmodell, wie man Demokratie managen kann, ohne daß sie unterdrückt erscheint. Dies kam nicht durch einen seinen Willen durchsetzenden Führer zustande oder über die gewaltsame Ausschaltung der Opposition durch den Staat, sondern durch gewisse Entwicklungen, insbesondere in der Ökonomie, die Integration, Rationalisierung, Anhäufung von Wohlstand und einen Glauben voran trieb, daß nahezu jedes Problem, vom Gesundheitssystem bis zu politischen Krisen und sogar der Glaube selbst – gemanagt werden kann. Managen bedeutet, alles kontrollieren, Berechenbarkeit und kosteneffektive Lieferung das Produktes. Wähler werden genau so berechenbar gemacht wie Konsumenten, die Struktur einer Universität ist nahezu genau so durch rationalisiert wie ein Konzern; die Struktur eines Konzernes ist in seiner Befehlskette genau so hierarchisch wie das Militär. Die Ideologie des Regimes ist der Kapitalismus, praktisch genau so wenig hinterfragt wie es die Nazi-Doktrin im Deutschland der 30’er Jahre war.

Dieser Aspekt in Wolins Argumentation erscheint mir essentiell. Was ihm fehlt ist ein tieferes psychologisches Gespür für die Wirkung dieses Systems auf das Leben normaler Männer und Frauen. Wie ist es, entfremdet, ausgebeutet, hintergangen, betrogen, ausgeweidet zu sein und in der Regel von einem Traum pulverisiert zu werden, der Klauen hat und das Leben jener in Stücke reißt, die er gleichzeitig mit einer unerreichbaren Hoffnung ködert? Vieles dürfte von der sozialen Schichtzugehörigkeit der beteiligten Individuen abhängen, da ihre Verteidigungs- und Angriffsmechanismen variierten dürften, abhängig von den Ressourcen, welche diesen unterschiedlichen Gruppen zu Verfügung stehen und von der Art und Weise, wie ihre Auffassungsgabe beeinflußt worden ist. Wir sind nicht besonders gut darin geworden zu verstehen, wie verschiedene Segmente unserer Bevölkerung ideologisch konstituiert sind, und deshalb fehlen uns Techniken, mit denen wir an dem Prozeß teilhaben könnten, diese aggressiven und defensiven Strukturen an’s Tageslicht zu bringen.

Wovon wir in Wisconsin Zeuge werden, ist offenbar eine heftige Reaktion auf eine Kränkung, die zu weit getrieben wurde, die Leugnung der eigenen Geschichte und des Menschseins. Es ist eine verkrustete Wunde, die immer noch schmerzt, wenn man sie zu heftig berührt. Ob sie die Fähigkeit besitzt, sich selber zu heilen, muß sich noch raus stellen. Die Teilnehmer dieses Widerstandes entstammen den verschiedensten Ausprägungen der amerikanischen Arbeiterklasse, und als solche haben sie verschiedene, manchmal sogar unvereinbare Ansichten, wie diese Situation geheilt und wie der vorfaschistische Angriff zurück geschlagen werden könnte. Sie sind noch keine Klasse und sicher auch keine "liberale Klasse", um die verwirrende Terminologie von Chris Hedge zu benutzen. Liberalismus ist die idealisierte Artikulation der Zukunftserwartungen der kapitalistischen Klasse, jenes Segment der Unternehmenstruktur, dem alles gehört, das alles kontrolliert und den Prozeß der kapitalistischen Entwicklung und sein stetiges Verlangen nach Akkumulation gemeinhin steuert. Es ist nicht monolithisch, da verschiedene Segmente dieser Schicht unterschiedliche und einander widersprechende Ziele verkörpern können – z.B. Importeure und Exporteure, Finanziers und die Bosse der Schwerindustrie. Doch egal wie groß ihre Differenzen auch sind, sie stimmen im Grundsätzlichen überein: Akkumulation, Profit als Antrieb, Privateigentum, Lohnunterschiede, Rechtsansprüche, die eigene Überlegenheit.

Jene von uns, die gegen die bösartigste Variante dieser “herrschenden Kapitalistenklasse” opponieren, welche gerade eine rückschrittliche Politik in Wisconsin, Michigan, Ohio und New Jersey durchdrückt, müssen lernen zu verstehen, daß ihr die Zähne nicht gezogen werden können, bevor man die unternehmerische Grundlage dieser politischen Tendenz aufgedeckt und als das was sie ist begreift, als durch und durch totalitäre Korruption. Der aktuelle Angriff auf die Bediensteten ist Teil eines weitergehenden Versuches, gesellschaftliche Zusammenschlüsse zu zerstören, wo immer sie auftreten. Hinter seiner Fassade des “Individualismus” ist der Neoliberalismus das konzertierte Bemühen, die gemeinschaftlich konstituierte Öffentlichkeit in eine private Enklave des Wohlstands und der Macht von Unternehmen umzuwandeln. Die grimmige und völlig unlogische Entscheidung des Supreme Court, die idiotischen Farce fortzuführen, welche ein Unternehmen als “Person” ansieht, ist eine Manifestation dieses Bemühens. Demnach hätte der Konzern als “Person” das Recht, auf beliebige Weise beliebig viel Reichtum nach eigenen Ermessen anzuhäufen.

Eine andere Facette des selben Bestrebens, Wohlstand und Macht in den Händen von ein paar wenigen anzuhäufen ist natürlich die Zerstörung der Gewerkschaften. Ein einzelnes Individuum ist selbstverständlich nicht in der Lage, der Macht von Unternehmen zu widerstehen; nur kollektive Zusammenschlüsse haben eine realistische Chance erfolgreich zu sein. Die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften, die sie vertreten, haben Dank ihrer langen Geschichte, ihrer sozialen Verankerung und ihrer Einbindung in das amerikanische Leben die potentielle Kraft, der bezahlten Macht der Unternehmen stand zu halten. Der Tea Party und ähnlich unheilvoll Verwirrten wird vielleicht jenes Schicksal blühen, das alle zerstört hat, die nicht verstehen, wer Herr und wer Diener ist. Doch der Nation kann sehr viel Leid widerfahren, bevor diese Niederlage eintritt. Nun ist es für uns alle an der Zeit, uns an der intellektuellen Anstrengung zu beteiligen, zu verstehen, welche Kräfte am Wirken sind – und an der praktischen Aufgabe, die ungeheuerliche Armee jener Protofaschisten, Direktoren und Steigbügelhalter zurück zu drängen und zu zerstören.


Richard Lichtman ist Philosoph und hat an verschiedenen großen amerikanischen Universitäten gelehrt, u.a. in Berkeley. Sein Ansatz ist weitgehend interdisziplinär. Neben den Klassikern Marx und Freud befaßt er sich in seinen Veröffentlichungen mit ökonomischen, sozialen und politischen Theorien, um Zusammenhänge zwischen sozialen und psychologischen Dimensionen des menschlichen Lebens sichtbar zu machen.

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Erstellt: 28. März 2011 21:53
Geändert: 25. April 2011 18:51
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