Initiative Pro Netzneutralität

Interview mit Slim Amamou, tunesischer Blogger und Aktivist

7. Juni 2012 21:48

Veröffentlicht am 05. Juni 2012 auf Evropský rozhled

DIE TUNESISCHE REVOLUTION


© Foto: pirati.cz CC: BY-SA via flickr 
Was braucht eine erfolgreiche allumfassende Revolution, damit sie stattfinden kann? Wie kann man lauernde Risiken vermeiden?

Die Revolution in Tunesien war das Resultat davon, daß Revolutionäre das Informationssystem unter ihre Kontrolle brachten: die sozialen Netzwerke. Dank der staatlichen Zensur von Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen fingen die Leute an, dem Internet als Nachrichtenquelle mehr zu trauen als den Medien der Regierung. Wir haben die Internetzensur überwunden, indem wir den Leuten den Gebrauch von Umgehungstools bei brachten und indem wir alles was wir irgendwo sahen mittels Copy & Paste sicherten, so daß überall Kopien mehrfach vorhanden waren. Dadurch haben wir auf sanfte Art den Informationsfluß sozial “kontrolliert”.

Indem wir die richtigen Botschaften formulieren und die richtigen Ideen verbreiteten gelang es uns, die sozialen Netzwerke der gut ausgebildeten arbeitslosen Jugend in vernachlässigten Gebieten des Landes (wie Sdibouzid) und die sozialen Netzwerke der Wohlhabenden “im Regime” (Freunde, Familienangehörige von Ben Ali, Leute aus der Regierungspartei, aus dem Militär und den Sicherheitskräften usw.) miteinander zu verbinden. Wir verbanden die sozialen Netzwerke… und Kawumm! :)

Das ist es, was man für eine globale Revolution braucht: die sozialen Netzwerke kontrollieren und das Vertrauen zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb der Regierungen bzw. Oligarchien wieder herstellen. Doch dabei müssen zwei Probleme berücksichtigt werden: Erstens, die sozialen Netzwerke sind in der Hand von US-Oligarchien, deshalb wird der Kampf in den USA schwierig sein. Es ist vielleicht sicherer, soziale “meatspace” Netzwerke, (d.h. Netzwerke in der realen Welt) aufzubauen, wie es die Occupy-Bewegung tat. Zweitens bewegen wir uns aufgrund des Mangels an natürlichen Ressourcen auf einen Weltkrieg im Jahre 2022 zu. Diesen können wir mit einer globalen Revolution verhindern – was nach meiner Ansicht das wichtigste Argument für eine von den Mitmenschen ausgehende Propaganda ist – doch falls Taktiken für den Kriegsfall erforderlich sein sollten, ist immer noch eine eher klassische Revolution möglich, obwohl die Geschichte zeigt, daß solche Revolutionen unerwünschte Ergebnisse haben können. Vielleicht bekommen wir mit der Zeit noch bessere Ideen.


Welche Initiativen haben zur tunesischen Revolution beigetragen?

2005: Die WISIS-Demonstrationen in den Straßen, Hungerstreiks, das harte Vorgehen der Polizei gegen Dissidenten. Ein paar meiner Freunde wurden gefoltert, Menschen die ich für die Revolution im Jahre 2011 für ausschlaggebend halte. [1]

2008: Im Süden Tunesiens wurden Aufstände gewaltsam unterdrückt. Wir versuchten vergeblich, das was geschah in Blogs zu berichten. Die sozialen Netzwerke hatten noch nicht die Reichweite, die sie heute haben.

2009: Die Präsidentschaftswahlen. Sehr viele Leuten hatten von der unverholenen Präsentation der Korruption genug. Die linke Ettajdid Partei stellte einen Kandidaten auf, er und seine militanten Anhänger wurden vom Regime mit Gewalt unterdrückt.

2010: Wir organisierten eine Demonstration gegen Internet-Zensur. Ich war eine mit den Protesten verbundene öffentliche Figur, ich wurde festgenommen. Dieser Vorfall gab der politischen Szene neuen Auftrieb und noch wichtiger: viele Leute überwanden die Barriere der Furcht.


Der arabische Frühling wird eine größere Beteiligung von Islamisten in der Politik früherer autoritärer Regime mit sich bringen. Inwieweit waren in Tunesien Islamisten beteiligt?

Islamistische Gruppen waren in Tunesien während der Revolution Gegenrevolutionäre, ihre öffentliche Botschaft lautete, sie würden den Aufstand nicht unterstützen, weil er von “betrunkenen Rowdys” angeführt wäre. Doch im Hintergrund konspirierten sie, um in Falle eines Erfolges die Macht an sich zu reißen. Und genau das ist geschehen. Sie haben nichts zur Revolution beigetragen.


Was bedeutet die tunesische Revolution für soziale Veränderungen?

Zur Zeit sehr wenig. Seit die Islamisten an der Macht sind, scheint bei ihnen kein Interesse an sozialen Veränderungen – oder an Veränderungen überhaupt – zu bestehen. Sie sind nur daran interessiert, ihre Machtposition und die Ordnung aufrecht zu erhalten.


Werden die Medien und Journalisten mit Blick auf die neu errungenen Freiheiten ihrer Rolle und Verantwortung gerecht?

Sie tun ihr Bestes. Sie werden pausenlos von Islamisten angegriffen, sie seien nicht regierungs- und islamistenfreundlich genug. Sie werden von islamistischen Milizen bedrängt. Die unabhängigeren werden Ziel von Schmierkampagnen.


IM GEFÄNGNIS

Hast Du vor Deiner Festnahme an Protesten teilgenommen, diese geleitet oder organisiert?

Ja, ich habe die Proteste des 27. Dezember 2010 in Tunis live im Internet übertragen. http://www.justin.tv/slimamamou/b/276429565


Erinnerst Du Dich an den Tag Deiner Festnahme? Wie hat Deine Familie dies aufgenommen?

Sie hatten große Angst. Besonders weil ich vorher schon festgenommen wurde und man wird schlechter behandelt, wenn es nicht das erste Mal ist. Als ich wußte, daß man mich festnehmen wird, habe ich meine GPS-Position verbreitet. Deshalb gab es sofort die Nachricht, daß ich mich nach der Festnahme durch die Staatssicherheit im Innenministerium befinde. Das war der Ort, wo Leute gefoltert und getötet wurden. Und niemand sagt jemals Deiner Familie Bescheid, daß Du festgenommen wurdest und dort festgehalten wirst. Ich vermute, sie haben die Hölle durchlitten.


Wurdest Du als Mitglied von Anonymous festgenommen?

Ja.


Gab es im Gefängnis Proteste oder ähnliches (Hungerstreik…)?

Nein. Ich wurde fünf Tage lang vernommen und blieb “nur” 3 Tage im Gefängnis.


Wie sehen die Haftbedingungen in Tunesien aus?

Sehr ungünstig. Räume, die für 100 Menschen vorgesehen waren, werden mit 200 vollgestopft. Doch aufgrund des großen internationalen Drucks für meine Freilassung wurden die Gefängnisbehörden angewiesen, mich und meinen Freund Azyz Amami, der ebenfalls festgenommen worden war, pfleglich zu behandeln. Hillary Clinton belehrte den tunesischen Botschafter in Washington über unsere Situation. :) Anonymous leistete großartige Arbeit uns zu unterstützen und es hat uns sehr geholfen. Danke Jungs. ;)


MINISTER FÜR JUGEND UND SPORT

Wie kam es dazu, daß Du Minister für Jugend und Sport wurdest?

Durch Zufall. Weil es eine große Kampagne für meine Freilassung gegeben hatte. Ich wurde für die Regierungsmitglieder zu einer Stellvertreterfigur der Jugend-Revolution. Als der Premierminister, der bereits zu Ben Alis Zeiten im Amt war beschloß, aus taktischen Gründen ein Symbol der Revolution in die Regierung aufzunehmen, war ich die naheliegende Wahl, da er niemand sonst kannte.

Ich wurde vom Kabinett des Premierminister einbestellt. Sie sagten: wir möchten Dir diese Position anbieten, ich sagte: OK. Sie sagten: Willst Du nicht darüber nachdenken? Ich sagte: Nein. Nach einer halben Stunde verkündeten sie die neue Regierung im Fernsehen und ich gehörte dazu.


Warum bist Du von Deinem Posten als Minister für Jugend und Sport zurück getreten?

Als ich der Übergangsregierung beitrat, geschah dies nur mit einer einzigen Absicht: die Wahlen zu organisieren und sicher zu stellen, daß dieser Vorgang ernst gemeint ist und die Leute in der Regierung es ernst meinen. Wir hatten noch nie wirkliche Wahlen, deshalb trauten wir der Regierung nicht, diese fair zu organisieren. Doch ich befand mich in einer schwierigen Situation. Meine Freunde sagten mir, ich würde mich mit einem korrupten Regime arrangieren. Andere Freunde demonstrierten immer noch in den Straßen und wurden von der Polizei jener Regierung geschlagen, der ich angehörte. Aufgrund eines Gerichtsbeschlusses, der vom Militär jener Regierung der ich angehörte erwirkt wurde, gab es wieder Internet-Zensur. Ich hielt so lange durch, bis für die Wahlen alles in die Wege geleitet war, dann trat ich zurück.


PIRATEN UND WIKILEAKS

Der neuste Wikipedia-Artikel behauptet, daß Du auch ein ehemaliger Aktivist der Piraten-Partei bist. Stimmt das Slim?

LOL, ich bin ein Gründer der Piraten-Partei :) http://www.partipirate.tn/known-members/ Pirat für immer /-)


Die Unruhen wurden durch die Selbstverbrennung eines Demonstranten ausgelöst. [2] Was waren die grundlegenden Ursachen? Inwiefern haben die Diplomaten-Depeschen die tunesische Revolution befeuert?

Die Hauptursache war, daß die Leute vom Regime genug hatten. Am Anfang waren es soziale Forderungen, Proteste gegen Arbeitslosigkeit. Doch dann gelang es uns mit Hilfe sozialer Netzwerke, hoch ausgebildete arbeitslose Leute mit Leuten die dem Regime nahe stehen zu vernetzen. Und dann passierte etwas magisches: Schwarmintelligenz. Irgendwo in der Nacht zwischen dem 13. und 14. Januar kamen alle auf den selben Gedanken – das Regime und Ben Ali sind die Ursache allen Übels. Er muß weg.

Die Diplomaten-Depeschen beinflußten dem Regime nahe stehende Leute, es trieb sie dazu, sich der Revolution anzuschließen, als sie plötzlich erkannten, daß die USA das Regime nicht unterstützen. Diese Leute waren jene, welche die Revolution ausführten, indem sie Ben Ali überzeugten, aus dem Land zu fliehen. ;)


Für das Bradley Manning Unterstützungs-Netzwerk hast Du gesagt: “Ich bin Slim Amamou und Bradley Manning hat mein Leben gerettet.” Hast Du irgendwelche direkten Verbindungen zu WikiLeaks (J. Assange, J. Appelbaum, R. Falkvinge)?

LOL, natürlich nicht! Ich möchte nicht auch noch das amerikanische Regime auf den Fersen haben…! :)


DAS LEBEN

Hast Du wegen Deinem Aktivismus Angst?

Ja. Nachdem mich die Staatssicherheit fünf Tage lang gefoltert hat, weiß ich nun genau, wo meine Grenzen liegen. Ich werde weiter für meine Freiheit kämpfen, aber ich bin darauf gefaßt, aus dem Land zu fliehen, falls mir wieder Folter droht. Ich muß darauf hinweisen, daß ich nicht in erster Linie körperlich gefoltert wurde – abgesehen von Schlägen, Tritten, Handschellen und Schlafentzug für 5 Tage. Die wirkliche Folter bestand aus dem was sie mir erzählten, was sie mit meinen Freunden und meiner Familie tun würden, wenn ich nicht kollaborativ bin.


Die Fragen stellten Nikola Čech und Ingrid Romancová (EN,CZ)
Tschechische Übersetzung: Ingrid Romancová
Redaktion des Original-Textes: Nigel Parry und Nikola Čech
Deutsche Übersetzung: BrunO


Das Original-Interview wurde unter Creative Commons: BY-NC-ND (Namensnennung, keine kommerzielle Verwendung, keine abgeleiteten Werke) veröffentlicht. Abweichend von dieser Linzenz habe ich von Evropský rozhled die Erlaubnis für diese Übersetzung bekommen. Für diese gilt nicht das Lizenzmodell dieses Blogs. Sie steht unter der gleichen Lizenz wie das Original, CC: BY-NC-ND, s.o.

Twitter:
@slim404
@EvropskyRozhled
@flyingmonkeyair (Nigel Parry)

Anmerkungen:
[1] Heise 2005: WSIS: Tunesische Bürgerrechtler beenden Hungerstreik
[2] Truthout 2011 (Übersetzung): Protest mittels Selbstmord macht auf ökonomische und politische Unterdrückung in Tunesien aufmerksam

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Erstellt: 7. Juni 2012 21:48
Geändert: 7. Juni 2012 21:48
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