Autor: Basel Saleh, 08.01.2011 für t r u t h o u t
Übersetzung: BrunO
Am 17. Dezember 2010 brachen im Stadtzentrum von Sidi Bouzid, das im Landesinneren Tunesiens liegt, spontane Massendemonstrationen aus, als sich der 26-jährige Mohammad Bouazizi mit Benzin übergoß und selber anzündete, nachdem ihn eine Polizeibeamtin geschlagen und bespuckt hatte. Das einzige Verbrechen das sich Bouazizi hat zu Schulden kommen lassen bestand darin, ein Straßenhändler zu sein, der ohne Genehmigung Gemüse und Früchte in einem Land verkauft, dessen neoliberale Wirtschaftspolitik es nicht geschafft hat, ihm und anderen tausenden von seinesgleichen Verdienstmöglichkeiten bereit zu stellen.(1)
Bouazizis Selbstmordversuch, unmittelbar nach der Demütigung durch die Polizei und der Beraubung seiner einzigen Einkommensquelle, offenbart die tiefe Verzweiflung, die zur Zeit in der Tunesischen Bevölkerung insbesondere unter Hochschulabsolventen vorherrscht. 24 Jahre rücksichtsloser Korruption, Diktatur und neoliberaler Wirtschaftspolitik haben dazu geführt, daß sich der Wohlstand in den Taschen von ein paar wenigen Leuten anhäufte, die mit der Familie des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und der seiner Frau in Zusammenhang stehen. Der Hochschulabsolvent Bouazizi(2) versuchte ein menschenwürdiges Leben zu führen und seine Familie zu versorgen, indem er Straßenhändler wurde, eine Wahl zu welcher er gezwungen war, obwohl er in einem Land lebte, das westliche Analysten als ökonomisches Wunder und als einen der “Afrikanischen Löwen” ansehen.(3)
Die äußerst schlechten wirtschaftlichen Bedingungen im Landesinneren und der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und politischen Freiheiten drängten Bouazizi wie tausende andere junge Männer und Frauen in den Maghrebstaaten an den Rand der Gesellschaft. Tunesiens offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 14 Prozent, eine Untertreibung der tatsächlichen Beschäftigungs-Situation.(4) Die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen (darunter versteht man Tunesier zwischen 15 und 24 Jahren) liegt bei 31 Prozent. Der Anteil der oberen 10 Prozent am Gesamteinkommen beträgt 32 Prozent und die oberen 20 Prozent der Bevölkerung verfügen über 47 Prozent des Tunesischen Einkommens. Die Ungleichheit in Tunesien ist derart stark ausgeprägt, daß die unteren 60 Prozent der Bevölkerung nur 30 Prozent des Landeseinkommens verdienen (die oberen 40 Prozent verdienen 70 Prozent).(5) Dennoch beschreibt der Internationale Währungsfonds (IWF) das Wirtschaftsmanagement der Regierung und das unausgeglichene wirtschaftliche Wachstum, das hauptsächlich den Städten im Norden und an der Küste zu Gute kommt, während es das Landesinnere vernachlässigt, als “kluges makroökonomisches Management”.(6)
Das widerwärtige Verhalten der Polizeibeamtin, die sich an Bouazizi verging ist in Tunesien nicht unüblich und wird von von jenem Überwachungsstaat geduldet, der grundlegende Menschenrechte ignoriert, die Würde seiner Bürger nicht achtet und nicht die geringsten Anzeichen von Dissens toleriert. Armut, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung trieben einen anderen jungen Mann nur wenige Tage nach Bouazizis Versuch in den Selbstmord. Am 22. Dezember brachte sich Hussein Nagi Felhi, ebenfalls arbeitslos, tatsächlich um, indem er auf eine Hochspannungsleitung kletterte. Er starb durch den elektrischen Strom an Ort und Stelle. Zeugen berichten, der junge Mann rief “Nein zur Misere, nein zu Arbeitslosigkeit” während er auf den Hochspannungsmasten kletterte.(7)
Die Epidemie der Jugendarbeitslosigkeit, Ungleichheit, der politischen Repression und das Fehlen jeglicher nennenswerter Freiheiten entfachte eine Solidarität in der Bevölkerung, die sie zu spontanen Protesten auf die Straße trieb. Innerhalb weniger Tage nach dem Selbstmordversuch von Bouazizi und dem Selbstmord von Felhi, breiteten sich die Proteste über das Land aus und erreichten die Hauptstadt Tunis und sie gehen weiter, obwohl die Medien landesweit nicht berichten, und trotz der Brutalität der Polizei, die den Tod eines 18-Jährigen zur Folge hatte. Dies ist nicht das erste Mal, daß dem Tunesischen Diktator Ben Ali während seiner 24-jährigen Regierungszeit wegen Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Mißstand der Zorn der Straße entgegen schlägt, doch die aktuellen Proteste sind mit Abstand die heftigste Kampfansage gegen seine Herrschaft. Vor ungefähr drei Jahren, im Januar 2008, knüppelte sein Sicherheitsapparat in der südlichen Bergbaustadt Redhayef Demonstranten nieder, als Arbeiter und junge Leute gegen Löhne und Arbeitslosigkeit protestierten.(8) Damals wurden wegen der Proteste über 300 Menschen festgenommen.(9) Diesmal hat die Verzweiflung in der Bevölkerung den Siedepunkt erreicht. Mittels Social Media richteten ein paar der Protestierer eine Facebook-Seite ein, um die Aufstände zu dokumentieren und Nachrichten zu verbreiten, obwohl die Regierung sofort alle Seiten dicht machte, die mit den Protesten zu tun hatten.(10) Die Demonstrationen werden heftiger und nichts an ihnen deutet auf eine Abschwächung hin. Die Demonstranten haben den Status Quo einer sich selbst bereichernden, korrupten, Familie als Regierung satt, was de facto das Regierungssystem des mittleren Ostens und Nordafrikas ist.
Ein Verbündeter des Westens: Die Verlogenheit des westlichen Neoliberalismus und der westlichen Außenpolitik
Die Achtung der Menschenrechte und die Freiheit der Presse existiert in Tunesien weitgehend nicht. Die Heritage Foundation zeichnet das Land in seinem Index für ökonomische Freiheit mit einem sehr niedrigen Wert, der sich nur unwesentlich von “in Repression” unterscheidet, als “überwiegend unfreies” Land aus.(11) Transparency International bewertet Tunesien in seiner Kategorie schwer korrupter Länder mit 4,3 – auf einer Skala von 1 bis 10 (wobei 10 am korruptesten und 1 nicht korrupt bedeutet). Nach dem Index von Freedom House gilt Tunesien als “unfrei”(12), was in einem Land in welchen die Regierung nahezu alle Aspekte des Lebens der Menschen kontrolliert nicht überrascht. Junge Leute werden besonders scharf kontrolliert und überwacht. Das Regierungs-Ministerium für Ausbildung, Studium und wissenschaftliche Forschung entscheidet sogar, welche Studienrichtung Studenten zu studieren haben.(13)
Obwohl die sich über das Land ausbreitenden Proteste anfangs für ein paar wenige Tage die Gestalt sozialer Unruhen an nahmen, verwandelten sie sich in den folgenden zehn Tagen sehr schnell in eine von den Menschen getragene politische Massenkundgebung. Die Demonstranten sind nun auf den Straßen und fordern Ben Ali offen auf, zurück zu treten, sie tragen Schilder auf denen im Tunesisch-Arabischen Dialekt “Yezzi Fock” steht (Ben Ali, es reicht), das ist der politische Slogan der Protestierenden. Arbeiter und Industriegewerkschaften, die seit der Unabhängigkeit von Frankreich eine aktive Rolle im öffentlichen Leben gespielt haben, unterstützen die Protestierenden ebenfalls. Der fast 80-jährige Ben Ali ist sich des Ernstes der Lage und der realen Bedrohung seiner Machtposition sehr bewußt. Seine erste Reaktion bestand darin, den Protestierenden zuvor zu kommen und ein paar Beamte vor Ort zu entlassen, ein paar Minister in seinem Kabinett zu ersetzen und dann sofort mehr Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen zu versprechen. Dabei schien er darin zu verharren, den diesbezüglichen Erfolg seiner 24-jährigen Amtszeit völlig außer Acht zu lassen. Als diese leeren Versprechungen die Wut der Protestierenden nicht dämpfen konnten, griff er auf die Routinepolitik zurück, Bereitschaftspolizei und eindeutige Drohungen an seine Bürger. In Anbetracht der schlimmsten Unruhen in der Geschichte seiner Regierungszeit, griff Ben Ali zu den elektronischen Medien und hielt eine im Fernsehen übertragene Rede, um auf die Demonstrationen zu reagieren. Er schwor “jene Minderheit von Extremisten” zu bestrafen, welche er für die Krawalle (wie er es nannte) verantwortlich machte, und zusätzlich wies er darauf hin, daß diese Proteste “auf die Schaffung von Arbeitsplätzen einen negativen Einfluß haben werden. Es wird Investoren und Touristen abschrecken, was das Arbeitsangebot schwächen wird.”(14) Anscheinend gilt die Hauptsorge des Präsidenten der Tourismusindustrie, die wie mehrere WikiLeaks-Berichte aufgedeckt haben, von seiner Familie und den Trabelsis streng kontrolliert wird.
Der Tunesische Diktator und seine Familien werden von westlichen Regierungen als Beispiel einer stabilen und fortschrittlichen nordafrikanischen Muslim-Nation gepriesen. Der IWF begrüßt deren neoliberale Wirtschaftspolitik, lobt diese als klug und weise, obwohl sie hauptsächlich Ben Alis Familie und der Familie seiner Frau zu Gute kommt, zusammen mit ein paar anderen wohlhabenden Tunesiern mit guten Beziehungen. In einem Korruptionsfall den WikiLeaks aufdeckte, kaufte der Schwiegersohn des Präsidenten einen Bankanteil von 17 Prozent, kurz bevor diese privatisiert wurde. Danach verkaufte er die Anteile gewinnbringend. Die Lektüre der von WikiLeaks veröffentlichten US-Diplomaten-Depeschen unterstreicht, daß ökonomischer Erfolg in Tunesien direkt von den Beziehungen zur ersten Familie abhängt. [Unterschiedliches] Einkommen und regionale Ungleichheiten nehmen in Tunesien zu. Die Schaffung vor Arbeitsplätzen und allgemeiner Wohlstand, wie von den nicht funktionierenden orthodoxen ökonomischen Anweisungen versprochen, kamen nie unten bei den Massen an und wurden nicht mal für die am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Hochschulabsolventen eines Landes wahr, in dem die Netto-Migration beständig zunimmt, von minus 16.000 im Jahre 1980 zu minus 80.000 im Jahre 2005.
Die Tunesische Regierung ist für die Vereinigten Staaten für ihre vom Ressourcenhunger angetriebenen Kolonialkriege in Afghanistan, im Irak und sonstwo ein wichtiger Verbündeter. Ein Bericht der Vereinten Nationen über geheime Inhaftierungspraktiken fand heraus, daß es in Tunesien geheime Haftanstalten gibt, in denen die Gefangenen festgehalten werden, ohne daß das Rote Kreuz Zugang zu ihnen hat.(15)
Der Tunesische Geheimdienst arbeitet mit den Vereinigten Staaten bei ihren Anstrengungen im “Krieg gegen den Terror” zusammen und war an Verhören von Gefangenen auf dem Bagram Luftwaffenstützpunkt in Afghanistan und in Tunesien beteiligt. Aktuelle WikiLeaks Diplomaten-Depeschen enthüllen, daß sich die Vereinigten Staaten vor nicht all zu langer Zeit über die wachsende Wut auf den Straßen und über die Korruptheit der Familien von Ben Ali und Trabelsi Sorgen machten, die alles im Land als ihr Eigentum ansehen. Eine Anzahl von WikiLeaks-Depeschen der US-Botschaft in Tunesien, die der Guardian auf seiner Homepage veröffentlicht hat zeigt, daß die Vereinigten Staaten Tunesien als Polizeistaat “mit wenig Meinungs- und Versammlungsfreiheit, und mit ernsthaften Menschenrechtsproblemen” und die Ben Ali Familie “quasi” als “Mafia” ansehen.(16)
Nichtsdestotrotz prahlt das Außenministerium mit der aktiven Unterstützung, welche die Tunesischen Sicherheitskräfte von den Vereinigten Staaten trotz aller schwerer Menschenrechtsverletzungen durch Ben Alis Regierung erhalten. Auf der Homepage des Außenministeriums heißt es:
Die Vereinigten Staaten und Tunesien haben ein reges Programm gemeinsamer Militärübungen. Historisch gesehen hat die US-Hilfe für Sicherheit bei der Festigung der Beziehung eine bedeutende Rolle gespielt. Die gemeinsame US-Tunesische Militärkommission tritt jährlich zusammen und berät die mitlitärische Zusammenarbeit, die Modernisierung des Tunesischen Verteidigungsprogrammes und andere Sicherheitsthemen.(17)
Wie die Proteste ausgehen werden, ist zur Zeit ungewiß. Die Regierung von Ben Ali versucht verzweifelt die Situation zu kontrollieren, indem mehr Polizei und Sicherheitskräfte in die betroffenen Städte geschickt werden. Die Demonstranten waren friedlich und haben zu keinerlei Gewalt oder Zerstörung von Eigentum Zuflucht genommen. Manche Demonstranten hielten einfach nur einen Brotlaib in die Höhe, andere trugen Schilder, die Arbeit und Würde forderten. Inzwischen treibt der IWF Tunesien zu noch rigoroserer Wirtschaftspolitik auf der Ausgabenseite an, empfiehlt der Regierung, seine Unterstützung für Lebensmittel und Treibstoff zu beenden und sein Sozialsystem zu “reformieren”, ein Stichwort, das Rentensystem des Landes zu privatisieren, das den armen Massen Tunesiens zugute kommt.(18) Die größte Heuchelei daran ist, daß der IWF diese Politik im Namen von mehr Beschäftigung und Wachstum empfiehlt – es ist das cut and paste Rezept für jedes Land, das er unter die Lupe nimmt.
Unterdessen schweigt die internationale westliche Gemeinschaft weitgehend zu den Protesten. Als die Proteste begannen, blieben die Medien der US-Konzerne wie üblich dabei, ihre Sendezeiten an Firmen zu verkaufen, die scharf darauf sind, vor den Weihnachtsfeiertagen Kasse zu machen, während sie in einer konzertierten Aktion ihre Preise erhöhen, um aus ihren Kunden noch mehr heraus zu pressen.(19) Die New York Times und The Wall Street Journal haben über die Proteste in Tunesien überhaupt nicht berichtet. Das US-Außenministerium bekam zu diesem Thema seine Lippen nicht auseinander und irgend ein Statement zur dieser Situation steht noch aus. Das ohrenbetäubende Schweigen der Amerikanischen Regierung bestätigt die Heuchelei der US-Diplomatie und der Außenpolitik. Eine Heuchelei, die überall bekannt, verabscheut und vor kurzem durch die von WikiLeaks veröffentlichten US-diplomatischen Depeschen bestätigt worden ist.
Der Original-Artikel steht unter einer Creative Commons Lizenz. Für meine Übersetzung gilt das CC Lizenzmodell dieses Blogs.
U p d a t e :
Mohamed Bouazizi starb am 05. Januar 2011. Der Guardian hat am 14.01. einen Liveblog zu den Vorgängen in Tunesien eingerichtet. Heute am 15. gibt es einen von der BBC. Die Nachrichtenquellen können sich immer wieder ändern. An nähsten ist man bei twitter dran. Mit den hash tags #jasminrevolt und #sidibouzid findet man neue Nachrichten(quellen). Dazu muß man nicht bei twitter angemeldet sein.
Referenzen:
(1) Al Jazeera Bericht (Arabisch), 23. December 2010
(2) Es gibt widersprüchliche Berichte, ob Mohammad Bouazizi ein Hochschulabsolvent ist oder nicht. Die meisten Nachrichtenquellen gehen davon aus.
(3) “Afrikanische Löwen” nennt die Boston Consulting Group jene acht Länger, die das Wachstum auf dem Kontinent voran treiben: Südfrika, Algerien, Botswana, Egypten, Mauritius, Libyen, Morocko and Tunisien. Dazu Florence Beauge, "Economic power of the ‘African lions’ tallied", The Guardian Weekly, 10. Juni 2010
(4) "Tunisian President Vows to Punish Rioters After Worst Unrest in a Decade", Julian Borger, The Guardian, 29. Dezember 2010
(6) "Tunisia Weathers Crisis Well, But Unemployment Persists", Joel Toujas-Bernate and Rina Bhattachary, IMF Survey Magazine: Countries & Regions, September 10, 2010.
(7) "Tunisia: Apparent Suicide Triggers Youth Protests Against Unemployment", Amro Hassan, The Los Angeles Times, 23. Dezember 2010
(8) Human Rights Watch, World Report Chapter: Tunisia, January 2009
(9) Amnesty International, "Behind Tunisia’s Economic Miracle: Inequality and Criminalization of Protests" (PDF), Juni 2009
(10) Facebook-Seite der Protestbewegung
(11) The Heritage Foundation, 2010 Index of Economic Freedom
(12) Freedom House, "Freedom in the World Country Report", 2010 edition und Transparency International Corruption Index
(13) "Unemployment Haunts Tunisia’s College Graduates", Housa Trabelsi, The Megharebia, 30. Juli 2010
(14) "Tunisian President Says Job Riots are Not Acceptable", BBC, 28. Dezember 2010
(15) United Nations report on secret detention practices (PDF)
(16) "US Embassy cables: Tunisia – a US Foreign Policy Conundrum", The Guardian, 7. Dezember 2010
(17) Background Note: Tunisia, U.S. State Department, October 13, 2010
(18) Siehe (4)
(19) "Wal-Mart Raising Prices on Toys, Squeezing More Out of Holidays", Matthew Boyle, Bloomberg News, 15. Dezember 2010