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Wie man die Revolution in Syrien falsch darstellt

10. August 2012 18:08


© Foto: FreedomHouse CC: By via flickr 

Im Gegensatz zu anderen Volksaufständen der jüngster Zeit, die an vielen Orten im Nahen Osten und in Nord-Afrika stattfanden, hat die syrische Revolution keine wirklichen Verbündeten angezogen. Dieser Umstand ist zum Teil damit zu erklären, wie die von externen an ihren eigenen Interessen orientierten Mächte die Situation beschreiben. Sie haben mehr zu gewinnen, wenn sie die syrische Gewalt als eine zersplitterte Auseinandersetzung lokaler Interessengruppen portraitieren, anstatt daß es sich um eine Massenrebellion gegen ein repressives Regime handelt.

Autorin: Leila Nachawati für ISN Security Watch, 2. August 2012
Übersetzung: BrunO für den UFOCOMES-blog, 9. August 2012


Wenn man den aktuellen Konflikt in Syrien in Schwarz-Weiß malen möchte, dann is es ein Konflikt zwischen jenen, die mit dem Status Quo zufrieden sind und jenen, die es nicht sind. Menschen aus verschiedenen Religionen – Christen, Schiiten und sunnitische Moslems, Alawiten, Drusen, Ismailiten – und ethnische Gruppen – Palestinenser, Irakis, Kurden, Assyrier, Armenier – findet man auf beiden Seiten der Auseinandersetzung. Und obwohl die Alawitengemeinde (zu der die herrschende Assad Familie gehört) lange Zeit Regierung und militärische Schlüssenpositionen dominiert hat, haben Menschen aus allen Gruppen von einem System institutionalisierter Korruption und Ungerechtigkeit profitiert. Der Aufstand, der im März 2011 begann, stellt das System als Ganzes in Frage, unabhängig von religiösen Komponenten. Wenn man den Konflikt auf sein Wesentliches reduzieren wollte, sollte man sich eher auf diesen Aspekt als auf irgendwelche religiösen oder ethnischen Überlagerungen konzentrieren.

Trotz der Gewalt, die das Regime an den Tag gelegt hat – und seinem Versuch, sektiererische, ethnische und religiöse Elemente zu instrumentalisieren, um sich selbst als für die Aufrechterhaltung des Zusammenhalts notwendig erscheinen zu lassen – bleibt das Ziel der syrischen Revolution das selbe: das Regime überwinden, um den Weg für ein Land zu bereiten, in dem Gerechtigkeit, Freiheit und Würde respektiert werden. Obwohl das Land nun in eine Phase getreten ist, in der die Tage des Assad Regimes gezählt sein könnten, müssen wir eine internationale Tendenz beobachten, welche die Situation mit einer Analyse bewertet, die politische und soziologische Aspekte außer Acht läßt und sich stattdessen auf religiöse und sektiererische Elemente konzentriert. Worauf man dabei hinweisen sollte ist, daß diese Analysen direkt von den geostrategischen Interessen der jeweiligen Länder abhängig sind.

Die (Über-)Simplifizierung einer komplexen Wirklichkeit

Religiöse und sektiererische Interpretationen erfassen die Wirklichkeit einer komplexen und mannigfaltigen syrischen Gesellschaft nicht, in der Koexistenz trotz der Versuche Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen über Jahrzehnte bestand. Eine syrische Journalistin (deren Name der Autorin bekannt ist) gab gegenüber ISN [International Relations and Security Network] an, daß es zu sektiererischen Auseinandersetzungen kommen wird “und daß dies niemanden überraschen sollte, betrachtet man Assads Unterstützung radikaler Gruppen in der Vergangenheit – im Libanon und im Irak – und wie er Sektierertum gefördert hat, um das Volk uneins und in Furcht zu halten”.

Sie wies auch darauf hin, daß ein paar kleine, destruktive Zellen “eine unverhältnismäßig große Wirkung haben können, doch das bedeutet nicht, daß die Revolution als solche sektiererisch geworden wäre. Tatsächlich ist das revolutionäre Lager bemüht – in jeder Ansprache, Mitteilung und Erklärung – darauf hinzuweisen, daß es im zukünftigen Syrien für jede Gruppe Raum geben wird” [s.u. Proclamation of Principles].

Nach dem syrischen Blogger Yassin Swehat wird eine sehr komplexe Wirklichkeit immer weiter simplifiziert und divergiert deshalb dramatisch von den was die Aktivisten vor Ort berichten. In einem Interview mit ISN behauptet Swehat, daß dies die Unfähigkeit vieler in der internationalen Gemeinschaft belegt, Syrier als etwas wahrzunehmen, “das mehr ist als Stämme und religiöse Gemeinschaften, die irrationalen Impulsen folgen und jenseits aller historischer, ökonomischer und sozio-politischer Zusammenhänge stehen”.

Geostrategische Interessen stehen auf dem Spiel

Jede geostrategische Macht hat durch die Darstellung der syrischen Gesellschaft als eine geteilte und fragmentierte zu gewinnen. Anders als andere Aufstände in der Region hat die syrische Revolution, so könnte man argumentieren, keine wirklichen Verbündeten. Russland und China haben z.B. das syrisched Regime sehr konsequent unterstützt. Indem sie Assad unterstützen – der behauptet, islamistische Terroristenbanden und eine westliche Verschwörung gegen das Land zu bekämpfen – haben Russland und China immerhin ihre eigenen Machtambitionen zu erkennen gegeben. Durch Militärhilfe (und durch die Weiterverbreitung der von Pro-Assad Quellen propagierten Lagebeschreibung) versuchen sie, sich als Alternative zu den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten zu präsentieren.

Der Iran unterstützt Assad weiterhin aus ähnlichen Gründen. Indem der syrische Aufstand als vom Westen, von Israel und Saudi Arabien unterstützt dargestellt wird, zielt die iranische Sicht darauf ab, eine Vormachtstellung der Schiiten in der Region zu fördern. Auf einer Pressekonferenz am 28. Juli kündigte der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi an “wer immer der Meinung ist, es würde in Syrien einen Regimewechsel geben, der ist sehr naiv”. Und als er gefragt wurde, ob sich der Iran auf den gegenseitigen Selbstverteidigungspakt berufen würde, der zum Schutz des Assad-Regimes geschlossen wurde, blieb eine Verneinung bemerkenswerterweise aus.

Saudi Arabien hingegen braucht ein Erklärungsmuster, das sich gegen den Iran wendet. Riad unterstützt die Free Syrian Army, indem es sie als Teil des religiösen Kampfes zwischen dem sunnitischen Glauben und dem angeblich anti-religiösen Assad-Regime darstellt. Zugleich fürchtet das saudische Regime, die syrischen Revolution könnte das Muster einer Befreiungsbewegung werden – eine Idee, die sich in Saudi Arabien ausbreiten könnte, wo die Legitimität der herrschenden Monarchie zunehmend in Frage gestellt wird. Das vorteilhafteste Szenario scheint deshalb eine militärische Auseinandersetzung zu sein, in der weder das Regime noch die Free Syrian Army die Oberhand gewinnen – ein Kampf, der die Syrier verschleißen und das ganze Land schwächen würde.

So unvorstellbar es auch klingen mag, hatte Israel womöglich mit Syrien einen guten Verbündeten. Stattdessen kann der Niedergang der zentralen Autorität in Syrien den Konflikt um die Golan-Höhen wieder aktivieren und Angriffe auf von Israel besetzte Gebiete wahrscheinlicher machen. Deshalb wäre ein langer Kampf und eine Schwächung Syriens auch für Israel das positivste Szenario. Assad als das ‘kleinere Übel’ anzusehen, scheint in der öffentlichen Haltung der USA zum Ausdruck zu kommen, welche nach dem Treffen von Präsident Barak Obama und dem israelischen Verteidigungsminister Ehud Barak im Februar 2012 von einer offen kritischen zu einer nachsichtigeren wechselte.

Die jüngsten Erklärungen der USA und der Europäischen Union zu Syrien offenbaren eine Loslösung der internationalen Interessen von den wirklichen Bedürfnissen und Forderungen der Syrier. Beiden scheint viel an der Unterstützung des ehemaligen Brigadiers Manaf Tlass als dem Politiker zu liegen, der ein Syrien nach Assad führen soll. Er verkörpert das syrische Establishments, Tlass ist der Sohn des ehemaligen Verteidigungsministers Mustafa Tlass. Erwähnenswerte Tatsache ist, daß der alte Tlass 1982 während des Hama Massakers im Amt war, ein Ereignis, das wie berichtet wird über 10 Tausend Todesopfer zur Folge hatte. Der jüngere Tlass gehört zum inneren Kreis um Bashar al-Assad und ist sehr in die Verbrechen des Assad-Regimes verstrickt. In der Tat wurden sein Überlaufen und seine Ankündigung, er wolle die staatlichen Institutionen erhalten von den Aktivisten mit Hohn quittiert.

Die weitgehendste Revolution

Trotz der Verluste an Menschenleben, der hundert Tausende an Vertriebenen oder zur Flucht Gezwungenen und der Verwüstungen, die im Land angerichtet wurden, scheint eine Verlängerung der bewaffneten Auseinandersetzungen aus Perspektive gewisser geostrategischer Mächte das positivste Szenario zu sein. Der Revolution ihre Legitimation abzusprechen, ihre Proklamationen von Freiheit und Gerechtigkeit zugunsten von religiösen und ethnischen Auslegungen zu verwässern, ist für die Syrier nicht sehr nützlich, paßt aber fremden Mächten in’s Kalkül.

Trotz der Versuche, sie zu unterwandern, geht die Syrische Revolution weiter. Defektionen nehmen in dem Maße zu, wie die Syrische Armee verzweifelter und gewalttätiger wird und mehr als 100 Zivilisten pro Tag tötet [mittlerweile (August 2012) sind es 200 und mehr]. Tausende demonstrieren weiterhin im ganzen Land, insbesondere an Freitagen: Diese Tage bekommen weiterhin jede Woche einen anderen Namen, um die Städte, die Opfer und die Werte der Revolution zu ehren. Die Syrier stellen weiterhin das Regime als Ganzes, als ein repressives System, jenseits aller religiösen Komponenten in Frage.

Nach den Worten der syrischen Aktivistin Sara Ajlyakin, “ist dies die radikalste und am weitesten gehende Revolution, da sie sich gegen das Regime als Ganzes richtet. Die Syrier kämpfen auf sich alleine gestellt gegen seine Figuren, seinen Apparat und seine Hauptstadt. Kosmetische Veränderungen sind nicht möglich. Wenn die Revolution Erfolg hat, wir das Regime vollständig stürzen” erklärte sie ISN.


Die Autorin Leila Nachawati ist Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Carlos III Universität in Madrid. Die spanisch-syrische Menschenrechtsaktivistin arbeitet für mehrere Medien wie Global Voices Online, Periodismo Humano und Al Jazeera English.

Der Original-Text “Misrepresenting the Syrian Revolution” wurde unter der Creative Commons Lizenz CC: BY-NC-ND (Namensnennung, keine kommerzielle Verwendudng, keine abgeleiteten Werke) von ISN Security Watch veröffentlicht. Abweichend von dieser Lizenz hat mir ISN Security Watch die Übersetzung dieses Textes gestattet. Für diese gilt das Lizenzmodell dieses Blogs (CC: BY-NC-SA).

I thank ISN Security Watch to allow me the translation. This is not an official translation by ISN Security Watch!


Ergänzende Dokumente:

‫‪Proclamation of Principles‬‬ der Free Syrian Army (engl./PDF)

Code of Conduct des Local Coordination Committees, den schon einige Bataillone der Free Syrien Army unterzeichnet haben (engl.)

YouTube-Video einer Demonstration am 08.08.2012 in Homs

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Erstellt: 10. August 2012 18:08
Geändert: 10. August 2012 18:08
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