Initiative Pro Netzneutralität

Syrien: Ein aktuelles Versagen der Humanität

17. Januar 2013 20:48

Autor: Raha Mirabdal, 29. Dezember 2012
Übersetzung: BrunO

Die syrische Krise ist nicht nur eine der blutigsten aktuellen Revolutionen, sondern auch einer der eklatantesten Fälle von humanitärem Versagen der internationalen Gemeinschaft. Das syrische Observatorium für Menschenrechte hat berichtet, daß in diesem Konflikt über 45.000 Menschen getötet wurden, von denen die meisten Zivilisten waren. Doch hinter den statistischen Zahlen stehen tausende von tragischen Geschichten unschuldiger Zivilisten, Flüchtlinge und Kinder, die zwischen die Fronten gerieten. Die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Unschuldigen in diesem Konflikt zu schützen, stellt ein monumentales Versagen des derzeitigen Konzeptes der Menschenrechte und des Völkerrechts dar.


Kriegskinder

Der Blutzoll unter den syrischen Kindern war enorm und wird sich wahrscheinlich länger als eine Generation auswirken. Viele wurden beschossen, entführt, gefoltert, verletzt oder getötet. Andere wurden Zeugen des Todes ihrer Eltern, Geschwister oder Cousinen. Die Traumata, welche diesen Kindern zugefügt wurden, werden sich dauerhaft auf ihre seelische Gesundheit auswirken und tiefe Narben hinterlassen, sichtbare wie auch unsichtbare.

Save The Children, eine NGO für die Rechte von Kindern, erstellte einen Bericht mit dem Titel “Noch nie dagewesene Grausamkeiten”, in welchem sie Aussagen von syrischen Kindern und Familien zusammentrug, die unter der Krise zu leiden haben. Wie Save The Children berichtet, hat nahezu jedes Kind das sie befragten gesehen, wie ein Familienmitglied oder ein Freund umgebracht wurde. Infolgedessen wird es für den Rest seines Lebens mit einer mehr oder weniger ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung leben müssen. Dies wird noch dadurch verschlimmert, daß Pfleger und Ärzte nicht ausreichend zur Behandlung von seelischen Traumata ausgebildet wurden, was zu einer unzureichende Betreuung von traumageschädigten Kindern führt.

In einer Aussage die Save The Children zuging, erinnert sich Razan eine Mutter aus Karak an den Tag, als sie auf ihrem Heimweg Zeuge wurde, wie ein kleiner Junge langsam auf der Straße starb. Soldaten hatten sich dazu entschlossen, den achtjährigen Jungen als Ziel für Schießübungen zu benutzen. Der Schuß in seinen Kopf war nicht sofort tödlich. Das kleine Kind lag langsam sterbend auf der Straße, während die Soldaten seine Mutter verhöhnten, die drinnen im Haus zusah: “Du kannst nicht zu Deinem Kind, Du kannst nicht zu Deinem Kind!”. Razan mußte mit ansehen, wie die Mutter aus dem Haus heraus schrie, da sie nicht zu ihrem sterbenden Sohn konnte. “Ich komme damit überhaupt nicht klar”, erklärt Razan, “ich kann nicht einfach ein neues Kapitel aufschlagen. Ich habe gesehen, wie Kinder geschlachtet wurden. Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder OK sein werde.” Geschichten wie die von Razan wurden in Syrien während den letzten 19 Monaten leider viel zu sehr zur Normalität.

Nach Ansicht von War Child, einer NGO die sich weltweit mit den Auswirkungen von Krieg auf Kindern befaßt, werden syrische Kinder in diesem Konflikt bewußt angegriffen, um innerhalb der Opposition Furcht zu verbreiten. Rob Williams der Generaldirektor von War Child erklärte: “Normalerweise leiden Kinder in einem Konflikt als Kollateralschaden: wenn es zum Krieg kommt, können Kinder zwischen die Fronten geraten. In diesem besonderen Konflikt wurden sie vorsätzlich angegriffen.”

Wael, ein 16 Jahre alter Flüchtling, der momentan in Za’atari in Jordanien lebt, machte gegenüber Save the Children eine Aussage, welche die Grausamkeiten schildert, deren Zeuge er nach seiner Verhaftung wurde. “Ich kannte einen Jungen namens Ala’a. Er war nur sechs Jahre alt. Er verstand nicht, was geschah. Ich würde sagen, dieses sechsjährige Kind wurde mehr gefoltert als jeder andere im Raum. Er bekam drei Tage lang kein Essen und kein Wasser und er war so schwach, daß er dauernd ohnmächtig wurde. Er wurde regelmäßig geschlagen. Ich sah ihn sterben. Er überlebte nur drei Tage und dann starb er einfach. Er hatte die ganze Zeit Angst. Sie behandelten seinen Körper als ob er ein Hund wäre.”


Ein Versagen der medizinischen Versorgung

Wie die World Health Organization meldet, wurde die Hälfte der 88 syrischen Krankenhäuser schwer beschädigt. Davon können 23 nicht mehr benutzt werden. Das hat zur Folge, daß die übrigen funktionierenden Krankenhäuser von Patienten überrannt werden und unter einem Mangel an Material und Personal leiden. Über die Hälfte der Ärzte Syriens sind aus dem Land geflohen und lassen die Kliniken in einer Zeit des landesweit erhöhten medizinischen Bedarfs unterbesetzt zurück. Es besteht ein derart verzweifelter Notstand an medizinischem Personal, daß es Berichte über Veterinärmediziner gegeben hat, die freiwillig halfen, Verletzte zu behandeln.

Es gehört zur Politik des Assad Regimes, der Opposition medizinische Hilfe zu versagen. Dies hat dazu geführt, daß Anhänger des Regimes so weit gegangen sind, sogar Verletzte auf dem Weg zu staatlichen Krankenhäusern anzugreifen. Aktivisten der Opposition haben dringend benötigte Antibiotika, Schmerzmittel und Medikamente für chronische Erkrankungen in von den Rebellen kontrollierte syrische Gebiete geschmuggelt, jedoch zu einem hohen Preis. Es gab Berichte über Folter und Tötung von jenen die versuchten, verwundete Rebellen zu behandeln oder ihnen medizinisches Material zukommen zu lassen. Es gibt Berichte aus Syrien über Ärzte und Pfleger, die ihr eigenes Gehalt vorschießen, um für den Krankenhausbetrieb benötigtes Material zu kaufen, wenn Aktivisten keinen Nachschub liefern können. Wenn es keine Versorgung gibt, sind die Ärzte gezwungen, Behandlungen ohne die notwendigen Medikamente und die erforderliche Ausrüstung durchzuführen. Da die Kraftstoffpreise stiegen, waren die Ärzte aufgrund von Materialmangel in den Kampfgebieten nicht in der Lage, notwendige Operationen durchzuführen.

Dr. Nassr, ein Wirbelsäulen-Chirurg aus dem USA hat mit Syrischen Ärzten gearbeitet und Workshops in Syrien geleitet, um die Anwendung neuer Techniken unter eingeschränkter Materialversorgung zu vermitteln. Nassr erklärte: “Es werden Patienten sterben, die in jedem anderen zivilisierten Land nicht sterben würden und es liegt nicht daran, daß diese Ärzte keine guten wären, es liegt daran, daß sie nicht über die Ressourcen verfügen, um diese Patienten zu behandeln, selbst die einfachsten Dinge fehlen.”

Vor der Krise war die im Osten gelegene Stadt Deir Azzour einmal ein gut funktionierendes urbanes Gebiet, in dem über 600.000 Syrier lebten. Nun sitzen mehr als 10.000 arme und ältere Syrier in einer Stadt fest, die täglich beschossen und bombardiert wird, mit nicht mehr als einem provisorischen Lazarett und vier Ärzten. Nach Doctors Without Borders “ist es trotz der Unterstützung einer Organisation syrischer Ärzte in Deir Azzour nahezu unmöglich, an medizinisches Material heran zu kommen”.

Patienten die an chronischen Erkrankungen leiden, haben nun wegen der dramatischen Knappheit verfügbarer Medikamente große Probleme ihre Erkrankungen in Schach zu halten. Apotheken sind nicht in der Lage, dem derzeitigen Bedarf nach zu kommen, während die Schwarzmarkt-Preise für Medikamente extrem hoch sind.

Hanani, ein Krebspatient aus Damaskus war außerstande jene Medikamente zu finden die er benötigt, um seine Schmerzen zu kontrollieren und seinen Krebs zu verlangsamen. Er hat für die Medikation auf den Schwarzmarkt zurück gegriffen, was ihn im Monat 5.000 syrische Pfund (70 amerikanische Dollar) kostet – die Hälfte des gesamten monatlichen Einkommens seiner Familie. Ohne Medikation wird er einen langsamen und schmerzhaften Tod sterben.

Amoon ist eine 60jährige, die an hohem Blutdruck und Diabetes leidet. Ohne ihre Medikation gegen hohen Blutdruck hat sich Amoons Diabetes verschlimmert und sie bekam einen nekrosen Zeh, der sofort amputiert werden mußte (Zehenbrand). Aktuell benötigt sie ganz dringend Insulin, um ihre Diabetes zu kontrollieren, doch wie Hanani kann sie sich die Schwarzmarktpreise nicht leisten und wird infolgedessen mit Sicherheit weiter leiden müssen.

Die Krise hat nicht nur Millionen vertriebener Syrier Leid und Verwüstung gebracht, sondern war auch eine Quelle der Verzweiflung für Ärzte und Gesundheitspersonal. Das medizinische Personal wird weiterhin mit Todesfällen konfrontiert, die man mit Hilfe moderner Technologien hätte leicht verhindern können. Derzeit sind sie auf sich allein gestellt, überfordert und in vom Krieg zerrüttenen Gebieten ständig gefährdet. Immer mehr Patienten sterben in den Armen der Ärzte, trotz ihres besten Bemühens. Die Umstände sind gegen das tapfere medizinische Personal gerichtet, das in Syrien verblieben ist. Die Zehntausende an Toten in Syrien sind ein Versagen der Medizin, der internationalen Gemeinschaft und jener die versuchen, Unschuldige in Kriegen zu schützen.


Kein Schutz

Neben mit Traumata verbundenen Kriegsverletzungen leiden Syrier in immer größeren Zahlen an Hunger, wobei Frauen und Kinder dem größten Risiko ausgesetzt sind. Die Gebiete unter der Konrolle von Rebellen wurden von der Versorgung mit Öl und Mehl abgeschnitten, was zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führt und Zehntausende mit dem Hungertod bedroht. In zunehmendem Maße wurden Müllereibetriebe bombardiert, das hat zu einer schlimmen Verknappung der Versorgung geführt und die Brotpreise raketenmäßig ansteigen lassen.

Hout, ein Bürger von Aleppo erklärt die Schwierigkeiten, Lebensmittel zu bekommen. “Wir sind am Hungern. Ich kann es ertragen, doch was ist mit meinen Kindern? Ich stehe von drei Uhr Nachmittag bis 11 Uhr nachts an und es gibt nicht immer Brot.” Dies führt dazu, daß die Bürger nun gezwungen sind, entweder zu betteln, zu stehlen oder zu hungern. In vielen Städten haben jene, die sich die hohen Preise für Lebensmittel leisten können, trotzdem Angst, den sicheren Bereich ihrer Wohnung zu verlassen. Kürzlich wurden nahezu 300 Menschen durch einen Luftangriff getötet, als sie für Brot anstanden.

In von den Rebellen kontrollierten Regionen wurden Wohngebiete von der Elektrizitsäts- und Wärmeversorgung abgeschnitten, was Hunderttausende mit Hyperthermie (Unterkühlung) gefährdet. Jene die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, sehen sich nun ohne geeignete Unterkunft und Kleidung Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ausgesetzt. Viele Flüchtlinge sind nur mit Sandalen, Shorts und T-Shirts bekleidet in den Nachbarländern angekommen. Während die Temperaturen auf Null sinken, es weiter regnet und schneit, finden Hunderttausende von Familien in ungeheizten Schulen, Moscheen oder halbfertigen Gebäuden Zuflucht, schlafen auf dem kalten Betonboden. Aufgrund der sinkenden Temperaturen und dem Mangel an angemessenem Schutz werden Hypothermie, Lungenentzündung und Atemwegserkrankungen immer allgegenwärtiger und für Junge, Alte und Schwache gefährlich.

Die Flüchtlingskrise

Jenen, die in der Hoffnung Frieden zu finden vor den Kämpfen geflohen sind, drohen neue Gefahren. Flüchtlinge sind nun in Syrien, im Libanon, in Jordanien und der Türkei verstreut und es fehlt an ausreichenden Mitteln und Einrichtungen, um jene die einer medizinischen Versorgung bedürfen zu behandeln.

Bei nahezu 500.000 heimatvertriebenen Flüchtlingen, von denen die Hälfte Kinder sind, waren die für Hilfe zuständigen Behörden nicht in der Lage, angemessene Einrichtungen für alle Flüchtlinge bereit zu stellen und sie haben mächtig Probleme damit, es vor Einbruch des Winters zu schaffen. Die Höhen des Libanons sind nun das Zuhause von 120.000 Flüchtlingen. Das Frostwetter und der Mangel an Nahrung und Wasser bringen die Syrier in lebensbedrohliche Situationen; dazu gehören mindestens 300 um das Überleben kämpfende Neugeborene.

Die 110.000 syrische Flüchtlinge in Jordanien befinden sich in einer ähnlichen Lage, da sie mit Minustemperaturen und fehlenden Unterkünften zurecht kommen müssen. Der Konflikt in Syrien hat die Lebensmittelpreise in Jordanien sprunghaft ansteigen lassen und die Flüchtlinge unterernährt und schwach gemacht. Die 140.000 Flüchtlinge in der Türkei leben unter ähnlich gefährlichen Bedingungen. In Anbetracht signifikanter Überbelegung und potentiellen tückischen Überschwemmungen müssen die Flüchtlinge im kommenden Winter mit dem Schlimmsten rechnen.

Die Vereinten Nationen haben kürzlich ihre Hochrechnung der syrischen Flüchtlingszahlen zum vierten Mal nach oben korrigiert und erwarten insgesamt über eine Million Flüchtlinge in den nächsten sechs Monaten. Die UN-Behörde sagte, sie würde eine Milliarde US-Dollar benötigen, um den Flüchtlingen in den Nachbarländern zu helfen und weitere zusätzliche 519 Millionen Dollar, um vier Millionen Menschen in Syrien mit Hilfslieferungen zu versorgen, eine Zahl, die nahezu 20 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht.

“Die Gewalt in Syrien tobt im ganzen Land; es gibt so gut wie keine sicheren Gebiete mehr, in welche die Menschen fliehen können”, erklärte Radhouane Nouicer, Koordinator der humanitären Hilfe der Vereinten Nationen gegenüber Journalisten in Genf.

“Wenn nichts unternommen wird, um die aktuelle Dynamik zu stoppen und zu einer politischen Lösung zu gelangen, wird die Zerstörung Syriens das wahrscheinlichste Resultat sein”, sagte Jeffrey Feltman, UN-Untergeneralsekretär für politische Angelegenheiten.

Ein aktuelles Versagen der Humanität

Die Tragödie der syrischen Krise besteht nicht nur aus dem Grauen, das sich über das Land ausgebreitet hat, sondern aus dem Unvermögen der internationalen Gemeinschaft, den Menschen in Syrien angemessene Hilfe zukommen zu lassen. Die geopolitischen Spiele die in Syrien betrieben wurden, haben das immense Leid seiner Menschen in’s Abseits gerückt. Die Syrier, die in den vergangenen 19 Monaten gegen das Assad Regime für Freiheit gekämpft haben, empfinden gegenüber der internationalen Gemeinschaft eine Mischung aus im Stich gelassen worden zu sein sein und Betrug. Ungeachtet aller politischer Erwägungen könnte und sollte die internationale Gemeinschaft mehr getan haben, um die Kinder Syriens zu schützen und der gefährdeten Zivilbevölkerung medizinische Nothilfe bereit zu stellen. Für jene die den ultimativen Preis gezahlt haben mag es zu spät sein, doch es ist jetzt an der Zeit, für die eine Million oder mehr Flüchtlinge aktiv zu werden, denen Versorgungsenpässe und ein grimmiger Winter bevor stehen.


Der Original-Artikel “Syria: A Modern Humanitarian Failure” wurde von der in London registrieten NGO Near East Observatory (NEO) veröffentlicht und unter einer Creative Commons Lizenz freigegeben: By-NC (Namensnennung, keine kommerzielle Nutzung). Für diese Übersetzung gilt das Lizenzmodell dieses Blogs.

Die Autorin Raha Mirabdal ist Mitarbeiterin von NEO und befindet sich in ihrem letzen Jahr einer Pflegerausbildung an der Universität von San Franciso in Kalifornien.

Folgen Sie NEO auf Twitter: @NEO_NGO


Nachbemerkung:

Wir sind alle nicht vor Ort und deshalb darauf angewiesen, daß ab und zu jemand von dort einen Artikel als zutreffend empfiehlt. Meine bisher zu Syrien übersetzten Artikel sind alle auf diesem Wege zu mir gekommen.

Als ich diesen las, war er bereits ein paar Wochen alt. Mittlerweile gab das Büro des Hochkommissares für Menschenrechte der UN eine Schätzung heraus, nach welcher 60.000 Menschen in Syrien getöted wurden. Diese Zahl dürfte sicher konservativ sein und weiter steigen.

Wer helfen und spenden möchte bzw. kann:
Spendenaktion des World Food Programme
oder mit Google nach “Donate for Syria” oder “Spenden für Syrien” suchen.

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Erstellt: 17. Januar 2013 20:48
Geändert: 27. August 2013 22:22
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