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Wissenschaft und Macht: Politischer Stillstand und die Rolle der Genetik

15. August 2013 23:14

Autor: Jonathan Latham, PhD, 3. August 2013 für Independent Science News (Ursprünglich am 31. Juli 2013 veröffentlicht und aufgrund eines DDOS-Angriffes (Server-Attacke) verloren gegangen).
Übersetzung: BrunO


Science-Chess Accommodating Religion ©Glendon Mellow CC: BY-NC-ND
Science-Chess Accommodating Religion
© Glendon Mellow CC: BY-NC-ND via flickr 
Die Unterschiedlichkeit des individuellen "Bildungserfolges" (insbesondere, ob Schüler einen Abschluß an der Universität oder am College erreichen), kann nicht auf ererbte genetische Unterschiede zurückgeführt werden. Dies ist das Ergebnis einer neuen Studie, über welche das Science Magazin berichtet (Rietveld et al. 2013). Nach dieser Untersuchung sind volle 98% der Streuung aller Bildungsabschlüsse mit anderen Faktoren als der bloßen genetischen Grundausstattung zu erklären.

Dies bedeutet, daß der größte Teil des Bildungserfolges von potentiell veränderbaren sozialen und umweltbedingten Faktoren abhängt. Dies ist eine bedeutende und vielleicht sogar überraschende Beobachtung, die für Eltern, Lehrer und Gesetzgeber gleichermaßen von hohem Interesse sein sollte; doch sie schaffte es nicht in die Schlagzeilen.

Ein Grund dafür könnte sein, daß die Autoren der Studie es versäumt haben, die Zahl 98% in der Überschrift oder in der Zusammenfassung zu erwähnen. Genau so wenig wurde sie in der dazugehörigen Pressemeldung erwähnt.

Stattdessen konzentrierte sich ihr Interesse fast ausschließlich auf einen anderen Aspekt ihrer Ergebnisse: daß drei Genvarianten jeweils gerade mal 0.02% (ein Fünftausendstel) zum unterschiedlichen Bildungserfolg beitragen. Deshalb endete die Zusammenfassung nicht mit einem Apell, nach Wegen zu suchen, allen jungen Leuten zu helfen, ihr volles Potential zu erreichen, sondern verkündete stattdessen, daß diese drei Genvarianten

"vielversprechende Kandidaten-SNPs (DNA-Marker) für weitere Forschungsarbeiten wären".

So eklatant wie diese Falschdarstellung eines Forschungsergebnisses ist, so weitverbreitet ist dergleichen in der wissenschaftlichen Literatur. Doch die Frage bleibt, warum haben sich die über 200 Autoren entschlossen, auf die uninteressanten 0,02% hinzuweisen und die 98% unter den Tisch fallen zu lassen? Die einfache Antwort ist, daß es sich bei den Autoren um Genetiker handelt und Genetiker würden keine angesehenen Karrieren machen, wenn Genvarianten für die Gesundheit und die Errungenschaften der Menschheit keine Bedeutung hätten. Die ganze Antwort ist jedoch weitaus interessanter und bedeutender, als schlichte Interessenkonflikte.

Die ausführlichere Erklärung, die man z.B. braucht, um die Tatsache zu erklären, daß die Zeitschrift Science eine derart diskrepante Schlußfolgerung veröffentlicht, besteht darin, daß sich die humanbiologische Wissenschaft in den Fängen politischer Kräfte befindet. Diese Kräfte sind stark genug, um (dieser und anderen) vollkommen falsch dargestellten Studien zu ermöglichen, sich dem korrigierenden Potential des wissenschaftlichen Peer-Review Verfahrens zu entziehen und in den führenden Wissenschaftsjournalen veröffentlicht zu werden.


Wie Geld und Politik die Schlußfolgerung einer wissenschaftlichen Studie diktieren können

Um dieses Scheitern der Wissenschaft zu erklären, ist es am einfachsten, mit der Finanzierung zu beginnen. Wie wir gesichert wissen, war die Forschungsarbeit von Rietveld Teil eines genetischen Epidemiologie-Projektes namens Social Science Genetic Association Consortium (SSGAC). Das Konsortium bekommt fast sein gesamtes Geld vom National Institutes of Health (NIH) und der National Science Foundation, d.h. von der US-Regierung.

Die Grundannahme, mit der sich SSGAC selbst portraitiert, lautet:

"für das Meiste was sich im Leben zuträgt gilt, daß mehr als die Hälfte aller Ähnlichkeiten zweier biologischer Geschwister, die in der gleichen Familie aufwuchsen, auf ihre genetische Ähnlichkeit zurück geht" (Benjamin et al. 2012).

In anderen Worten, SSGAC glaubte sogar schon bevor Rietveld veröffentlicht wurde, daß vererbte genetische Veranlagungen am meisten zur Lebensleistung des Einzelnen beitragen, was sowohl Bildung aber offenbar auch die "meisten" Bereiche des menschlichen Verhaltens angeht. Folglich besteht das Ziel all seiner Projekte darin, diese spezifischen genetischen Faktoren in der menschlichen DNA physikalisch zu lokalisieren.

Doch das aktuelle Rietveld Ergebnis bedeutet, daß solche genetischen Prädispositionen ziemlich irrelevant sind, zumindest was Bildungsabschlüsse betrifft. Außerdem hatte SSGAC zuvor nach Genvarianten gesucht, die mit "allgemeiner Intelligenz" und mit "ökonomischen und politischen Präferenzen" (wie z.B. Risikoabneigung und Vertrauen) zusammen hängen. Für all diese Merkmale war die Suche wiederum vergebens: nur in einem einzigen Fall fanden die Projekt-Mitglieder eine genetische Variante, die den Grenzwert der statistischen Signifikanz erreichte (welcher selbst weit unterhalb von dem liegt, was man als prädispositionalen Faktor ansehen könnte) (Benjamin et al. 2012; Chabris et al. 2012). Daher können wir sagen, daß sich die Grundannahmen von SSGAC nicht mit den Daten decken.

Doch das wirft im nächsten Schritt erneut die Frage auf: Warum finanziert die US-Regierung in erster Linie genetisch deterministische Projekte so exzessiv?

Die Antwort ist vermutlich, daß das US-Bildungssystem viele Probleme hat, welche durch sein schlechtes Abschneiden nach internationalen Maßstäben zum Ausdruck kommt. Es besteht die Gefahr, daß die Verantwortung für diese Probleme dem Sekretär für Bildung, der Regierung oder dem Präsidenten zu Lasten gelegt wird. Das könnte jedoch sicherlich geschickt umgangen werden, wenn der Bildungserfolg genetisch vorherbestimmt wäre.

In Grunde kann man die gleiche politische Logik auf jede Erkrankung oder Störung des Menschen anwenden, oder sogar auf jedes soziale Manko. Wenn für die Störung, wie beispielsweise Autismus, teilweise genetische Ursachen nachgewiesen (oder sogar nur suggeriert) werden können, öffnet sich für jeden angeklagten Impfstoffhersteller, Umweltverschmutzer oder Gesetzgeber ein Scheunentor, der Schuld zu entkommen - sowohl vor dem Gesetz wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung.

Diese Möglichkeit, innerhalb der Biologie Ungleichheit (nicht nur ökonomische) 'naturgegeben' erscheinen zu lassen wurde schon vor langer Zeit erkannt. Der Harward Genetiker Richard Lewontin faßte es in seinem Buch von 1992 zusammen ‘The Doctrine of DNA: Biology as Ideology’ (Die Doktrin der DNA: Biologie als Ideologie):

"Der Gedanke, daß die unteren Klassen der Oberklasse biologisch unterlegen wäre... soll dazu dienen, die Strukturen der Ungleichheit in unserer Gesellschaft zu legitimieren, indem ihnen ein biologischer Anstrich verpaßt wird."


Extremgenetik

Die Erkenntnis, daß diese Argumentation sowohl den Interessen der Konzerne als auch der Regierungen entgegen kommt, fiel mit den außergewöhnlichen Finanzierungsmöglichkeiten für Wissenschaftler zusammen, die Willens sind, DNA-Analyse und genomische Ansätze auf weite Bereiche der geistigen und körperlichen Gesundheit anzuwenden. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber in den vergangen 15 Jahren ist fast die Hälfte des NIH-Bugets in die genetische Analyse verschiedener Bevölkerungsgruppen geflossen. Das sind vermutlich allein in den USA mehr als 100 Milliarden Dollar.

Der finanzielle Aufwand setzt sich fort: das gleiche SSGAC Konsortium erforscht auch die Möglichkeit genetischer Faktoren für "subjektives Wohlbefinden" (Glück) und "Fertilität". Zudem wird der Bereich für die Suche nach genetischen Prädispositionen ausgeweitet. Im Jahre 2004 schrieb der Wissenschaftsjournalist John Horgan, daß (erfolglose) Suchen nach "Genen für"

"AHDS, Zwangsstörungen, manische Depression, Schizophrenie, Autismus, Legasthenie, Alkoholismus, Heroinabhängigkeit, Hochintelligenz, männliche Homosexualität, Melancholie, Extraversion, Introversion, Neusüchtigkeit, Impulsivität, heftige Agression, Ängstlichkeit, Appetitlosigkeit, jahreszeitlich bedingte Depression und krankhafte Spielsucht" durchgeführt worden sind.

Nachdem er diese Liste zusammen gestellt hatte, wurde der Bereich "Verhaltensökonomie" zur Liste der als durch öffentliche Mittel förderungswürdig erachteten genetischen Suchen hinzu gefügt. Beispielsweise trägt eine Publikation vom 2013 (mit 68 Autoren) im Journal PLOS one den Titel "Molekulargenetische Architektur der Selbstbeschäftigung" (van der Loos et al. 2013). Hingegen hat das US National Human Genome Research Institute letztes Jahr ein Ersuchen für Belege veröffentlicht, in welchem es Genetiker bat, die Suche nach Prädispositionen für "Verhaltens-Adhärenz" gegenüber Experten-Ratschlägen (d.h. freiwillige Unterordnung) zu unterstützen.

Daher wird zwischen den Disziplinen Medizin, öffentliche Gesundheit, Sozialwissenschaften und neuerdings Ökonomie zusammengearbeitet, ein Forschungsverbund, der die Ursachen von negativen sozialen Biographien im Falle seines Erfolges internalisieren würde. Schuld wären Gene und nicht Umstände. Dies ist eine offiziell gebilligte, wissenschaftliche Version von "die Schuld beim Opfer suchen".

Drei Hauptstränge an Belegen unterstützen diese These.


Tabakriesen und Anfänge der Humangenetik

Was sofort auffällt, es gibt eindeutige Hinweise darauf, daß die Suche nach genetischen Prädispositionen das Hauptanliegen einer langfristigen Agenda der Konzerne ist, deren Zweck darin besteht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dies begann in den 1960er Jahren mit der Tabakindustrie, zu einer Zeit, als Rauchen das erste Mal mit Lungenkrebs in Zusammenhang gebracht wurde. Der strategische Zweck war, die Öffentlichkeit von der Frucht vor dem Rauchen abzulenken, die erwarteten gesetzgeberischen Reaktionen zu minimieren und mögliche Gerichtskosten zu vermeiden, indem humangenetische Forschung finanziert, angeregt und später ausgenutzt wurde. Dies könnte erreicht werden, so dachte sich die Industrie, indem man eine Wissenschaft für genetische Risikofaktoren aus dem Boden stampft.

Diese Agenda wurde bis in die späten 1980er Jahre verfolgt, bis die Tabakindustrie für Gesundheitsorganisationen politisch zu fragwürdig wurde, um mit ihr formal in Verbindung zu stehen. Nach Untersuchungen von Helen Wallace von der gemeinnützigen, britischen Organisation GeneWatch hat die Tabakindustrie bis 1994 etwa 1.000 Forschern 225 Millionen Pfund (370 Millionen Dollar) gewährt, um humangenetische Forschung zu finanzieren (Wallace 2009). Diese Forschungsgelder wurden vor allen für die Sache nach genetischen Verbindungen zu Lungenkrebs eingesetzt.

Bereits 1965 säte diese Strategie Verunsicherung über die Ursachen von Lungenkrebs. So sagte Dr. George L. Saiger, ein Berater, der von der Tabakindustrie mit über 50.000 Dollar bezahlt wurde, vor dem US Handelskommitee des Senates aus:

"Es gäbe gute Gründe anzunehmen, daß die Veranlagungshypothese die Befunde im Bericht des Surgeon General’s Committee [Ausschuß des obersten US-Gesundheitsprechers] erklärt, zumindest genau so gut wie die Zigaretten-Hypothese..."

Der Beweis, daß diese Erklärung Teil eines wissentlich durchgezogenen Programmes war, um die Glaubhaftigkeit einer "Veranlagungshypothese" aufzubauen (d.h. die Existenz einer Prädisposition für Lungenkrebs) wurde später anhand der Legacy Tobacco Documents (Gundle et al. 2010) bestätigt. Dies sind interne Dokumente der Tabakindustrie, die nun von der University of California in San Francisco verwahrt werden, zu deren Herausgabe die Industrie in Rahmen eines gerichtlichen Vergleiches gezwungen worden war.

Die Tabakindustrie versuchte auch, der 'Verhaltens-Genetik' den Weg zu bahnen. Die Vorstellung, daß sogar die Abhängigkeit von Zigaretten ein genetisches Phänomen sein könnte (und keine Eigenschaft von Zigaretten oder Tabak) kam mit der Zigarettenindustrie auf. Nach einer Notiz von Fred R. Panzer, Vize Präsident für Public Relations der Tabakindustrie, bestand das durchgängige Ziel hinter dem Engagement für Genetik darin, die Aufmerksamkeit "vom Produkt auf den Personentyp" zu verlagern.

Die Tabakindustrie verfolgte die selbe Public Relations (PR) Strategie immer noch aktiv, als sich z.B. 1988 hohe Tabak Chefs mit dem Genetiker und Nobelpreisträger Sydney Brenner trafen, genau einen Monat bevor er die Human Genome Organization (HUGO) gründete (Wallace 2009). HUGO war die Organisation, die geschaffen wurde, um das Projekt der Sequenzierung des menschlichen Genoms zu koordinieren.


Humangenetik hat nichts mit öffentlicher Gesundheitvorsorge zu tun

Der zweite wichtige Beleg ist, daß die Rechtfertigung der Identifikation von Genvarianten mit dem öffentlichen Interesse kaum zu erkennen ist. Wenn z.B. sogar Prädispositionen für Bildungsabschlüsse gefunden würden, wäre nicht klar, wie das Allgemeinwohl davon profitieren könnte. Es würde beispielsweise keinen Einfluß auf die Notwendigkeit einer qualitativ hochwertigen Ausbildung haben, weder für Individuen mit festgestellten Bedarf, noch für jene mit durchschnittlichen oder höheren Fähigkeiten. Dieser entscheidende Punkt wird von Verfechtern genetischer Erklärungen unter den Teppich gekehrt, die laut Chaufan und Joseph (2013) lediglich vermuten, daß genetisches Wissen

"zwangsläufig die Vorhersage, Diagnose, Verhinderung oder Behandlung von verbreiteten Erkrankungen verbessern wird."

Als diese Schwächen klarer wurden, wurde es für die im öffentlichen Gesundheitsbereich Tätigen selbstverständlicher, den Nutzen solcher Studien zu hinterfragen und zu argumentieren, daß die

"die Verfechter der genetischen Medizin"

bezüglich der möglichen Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit (Hall, Mathews, and Morley 2010) wenigstens

"etwas bescheidener sein sollten".


Das Belegs-Defizit der Genetik

Der dritte Grund zu argwöhnen, daß der anhaltenden Unterstützung für genetische Forschung eine politische und keine wissenschaftliche Agenda zugrunde liegt, besteht darin, daß das Geld selbst in Anbetracht einer Flut von Belegen weiter floß, die ihren wesentlichen Prognosen widersprachen. Wie Hall und Kollegen ebenfalls schrieben, haben Genetiker:

"keine bedeutenden Allele (Genvarianten) der Anfälligkeit für bekannte Erkrankungen gefunden (Hall, Mathews, and Morley 2010)."

Selbst die behaupteten Funde (die schlicht sind) haben durchgängig einer rückschauenden Wiederholung nicht Stand gehalten (Ioannidis and Panagiotou 2011). Die Abwesenheit von Belegen ist nun so eindeutig, daß selbst führende Köpfe auf dem Gebiet der Humangenetik es manchmal für nötig erachten, dies einzugestehen (allerdings nur im Zusammenhang der Forderung nach mehr Mitteln) (Manolio et al. 2009).

Da sich der Beweis für genetische Kausalzusammenhänge kontinuierlich und hartnäckig geweigert hat aufzutauchen, bekamen die Kritiker Zulauf. Im Jahre 2013 waren Chaufan und Joseph selbstsicher genug, um zu schreiben:

"diese Varianten wurden nicht gefunden weil, sie nicht existieren" (Chaufan and Joseph 2013).

Dennoch ist es wichtig einzugestehen, daß es Ausnahmen gibt. Die Brustkrebs-Mutationen des BRCA1 Gens sind eine Ausnahmeklasse. Doch selbst BRCA1 ist eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. BRCA1 ist bestens bekannt, weil es das mehr oder weniger einzige Beispiel einer prominenten genetischen Prädisposition für eine bekannte Erkrankung bleibt. Doch selbst BRCA1 ist überbewertet. Über 90% aller Brustkrebsfälle haben nichts damit zu tun (Gage et al. 2012).

Die andere Ausnahmeklasse sind jene relativ seltenen Erkrankungen, für die es den eindeutigen Beleg für eine einfache genetische Ursache gibt. Mukoviszidose ist ein Beispiel einer solchen Erkrankung, Chorea Huntington ist ein anderes.

Um jedoch wieder auf den Hauptpunkt zurück zu kommen, für gewöhnliche körperliche und geistige Erkrankungen wie Herzerkrankung, Krebs, Autismus, Schizophrenie hat sich die Situation anders herausgestellt. Die epidemiologischen und genetischen Nachweise legen nahe, daß das genetische Risiko überwiegend wenig beitragend ist. Für verhaltensmäßige und ökonomische Charakterzüge ist das Fehlen positiver genetischer Daten noch offensichtlicher.

Folglich bedarf es in Anbetracht von derart negativen Ergebnissen einer Begründung jenseits der Wissenschaft, um zu erklären, weshalb sehr große Summen an Steuergeldern für die humangenetische Forschung ausgegeben wurden.


Humangenetik: ein PR-Erfolg, der sich auf wissenschaftliches Versagen stützt

Aus rein wissenschaftlicher Sicht ist die Suche nach genetischen Prädispositionen beim Menschen gescheitert. Doch dieses Scheitern hat erstaunlich wenig dazu beigetragen zu verhindern, daß die medizinische Genetik und die Verhaltensgenetik einen überwältigenden PR-Erfolg darstellen. Dank der Tabakindustrie (der sich später die chemische Industrie, die Lebensmittelindustrie, die pharmazeutische Industrie, als auch die Glücksspiel-Industrie anschlossen), sind heutzutage "Gene für" jegliche Erkrankung oder Begabung oder menschliche Seltsamkeit ein Standardthema in den Konversationen Erwachsener.

Das war nicht immer so. Als die Genetikerin Mary-Claire King (Mitentdeckerin des BRCA1 Gens) neulich vom New Scientist interviewt wurde, war sie sehr darum bemüht, den Interviewer daran zu erinnern, daß es in den 1980er Jahren außerordentlich schwer war, Geldgeber zu überzeugen, eine vererbte genetische Basis für Krebs zu erforschen.

"Die Haupterfahrung in jeder Zeit war, daß die Leute mich vollständig ignorierten" (Powerful genes New Scientist 22 June 2013).

Absolut sicher ist es nicht, aber es ist wahrscheinlich, daß dieser völlige Umschwung der öffentlichen Meinung tatsächlich die Tabakindustrie geschützt hat, die weiterhin expandiert. Wie wir neulich dargelegt haben, spielte dies auch dabei eine wichtige Rolle, Umweltverschmutzer und Politiker aller Art davor zu schützen, mit Vorschriften und Verantwortlichkeiten konfrontiert zu werden. Das grundlegende Versagen unserer Gesellschaft, sich mit sozialen und mit Umweltproblemen auseinander zu setzen, kann zum größten Teil damit erklärt werden, daß man sich zu sehr auf genetische deterministische Erklärungen verlassen hat.

Doch abgesehen von BRCA1 können wenige Wissenschaftler oder Laien eine bestimmte Entdeckung zur Begründung ihrer genetischen Hypothesen anführen. Diese Diskrepanz zwischen dem Versagen des Forschungsprogrammes als solchem und seinem Erfolg als PR-Projekt ist in der Tat ein ernüchternder Belegt für die Macht moderner Public Relations. Es ist auch ein Vorwurf an den Wissenschaftsjournalismus und an die Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen Medien insgesamt.


Freies Forschen gegen gesteuerte Wissenschaft

Die vorausgegangene Analyse legt nahe, daß es falsch wäre, die Verantwortung für ihre Schlußfolgerungen ausschließlich den Autoren der Forschungsarbeiten wie z.B. Rietveld et al. zuzuschreiben. Das Betriebssystem innerhalb dessen sich diese Autoren befinden, trägt die gleiche Schuld. Beispielsweise ist das Science Magazin mit seinen Redakteuren und Prüfern eindeutig an der Veröffentlichung von irreführenden Schlußfolgerungen mitschuldig. Leistungsträger sind mitschuldig bei der Vergabe öffentlicher Mittel für spekulative Projekte, die zu Lasten drängender öffentlicher Gesundheitsfragen nach Genen jagen. Daher deutet alles auf ein systemweites Versagen hin.

Von Außenstehenden nicht ausreicherd verstanden ist die Tatsache, daß der überwiegende Teil der Wissenschaft ein von oben gelenktes Projekt ist. Die romantische (von vielen Wissenschaftlern aufrecht erhaltene) Vorstellung hält sich, daß Wissenschaft ein Prozeß freien Forschens wäre. Aus dieser Sicht sind die unzähligen Finanzierunganträge und die Ausschreibungen lediglich eine Maßnahme zur Qualitätskontrolle oder von Bürokraten auferlegte Schikanen.

Doch das freie Forschen ist in der Wissenschaft nahezu ausgestorben. In Wirklichkeit findet nur ein kleiner Teil der biologischen Forschung außerhalb der Zwangsjacken statt, die durch Leistungsträger auferlegt werden. Forscher planen ihre Projekte entsprechend den Finanzierungsprogrammen, Uninversitäten richten ihre Einstellungen an ihnen aus und jedes Experiment ist mit Sorgfalt danach ausgelegt, dem nächsten Finanzierungsbewilligungsantrag dienlich zu sein.

Die Folge dieser Dynamik ist, daß individuelle Wissenschaftler innerhalb des Systems eine vernachlässigbare Macht haben; doch wichtiger ist, es öffnet einen Kanal über den mächtige politische oder kommerzielle Kräfte hinter den Kulissen die Ziele der Wissenschaft von oben bestimmen können.

Im Falle der medizinischen Genetik wurde diese Macht benutzt, um unser Verständnis der Natur des Menschen selbst zu verbiegen. Auf diese Weise haben öffentliche Gelder nicht wissenschaftlichen 'Fortschritt', sondern die Unterjochung des intellektuellen Forscherdranges durch ein gänzlich bösartiges Projekt gebracht, welches außerhalb der Wissenschaft erdacht wurde. Dieses Projekt sollte ausschließlich dazu dienen, politische Lähmung und Stärkung der ökonomischen Macht sicher zu stellen - und welcher Agenda Wissenschaftler zu folgen glaubten, war völlig nebensächlich. Was wir beobachten ist de facto ein hochgradiges Versagen der Aufklärung.

Gleichwohl, ungeachtet des täglichen PR-Trommelfeuers genetisch deterministischer Schlagzeilen, ist unser Schicksal nicht in unsere DNA geschrieben und der Wissensstand der Öffentlichkeit kann prinzipiell neu gesetzt werden. Die hoffnungsvolle Wahrheit ist, daß es mehr als gute Gründe gibt, Zuschüsse für Junk Food abzuschaffen, Pestizide aus Lebensmitteln und Wasser zu entfernen, Giftstoffe vom Arbeitsplatz zu verbannen und soziale und ökonomische Ungerechtigkeit aus der Gesellschaft zu tilgen, und wenn wir das tun, werden die Dinge besser.


Referenzen:

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Chabris CF, et al. (2012) Most reported genetic associations with general intelligence are probably false positives. Psychol Sci. 23: 1314-23.

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Gage M, Wattendorf D, Henry LR. (2012) Translational advances regarding hereditary breast cancer syndromes. J Surg Oncol. 105: 444-51. doi: 10.1002/jso.21856.

Gundle KR. Dingel, M and Barbara A. Koenig (2010) “To Prove This is the Industry’s Best Hope”: Big Tobacco’s Support of Research on the Genetics of Nicotine. Addiction. 105: 974–983. doi:  10.1111/j.1360-0443.2010.02940.x

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Ioannidis JP and Panagiotou O (2011) Comparison of Effect Sizes Associated With Biomarkers Reported in Highly Cited Individual Articles and in Subsequent Meta-analyses. J. Am. Med. Assoc. 305: 2200-2210.

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Manolio T. et al. (2009) Finding the missing heritability of complex diseases. Nature 461: 747-753.

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Wallace H (2009) Big tobacco and the human genome: Driving the scientific bandwagon? Genomics, Society and Policy 5: 1-54.



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Erstellt: 15. August 2013 23:14
Geändert: 16. August 2013 19:59
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