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In ländlichen Gemeinden Kaliforniens schleicht sich Hunger ein

21. Juli 2011 00:29

Autor: David Bacon für t r u t h o u t, 17. Juli 2011
Übersetzung: BrunO

Antonio und Jocelyn Sanchez (Foto: David Bacon)Wenn man das Silicon Valley mit dem Auto in Richtung Süden verläßt, werden die großen Fabriken der Elektronikhersteller immer weniger, mit ihnen die ausufernde Bebauung, die ihren Arbeitern Wohnmöglichkeiten bietet. Stattdessen machen sich die Felder von Benito County mit Salat und Tomaten breit, sowie Plantagen mit Aprikosen und Walnüssen.

Noch etwas ändert sich.

Wenn Gemeinden ländlicher werden und immer mehr Landarbeiter die Bevölkerung ausmachen, werden die Leute ärmer. Im Jahre 2009 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen in Santa Clara County – wozu das Silicon Valley gehört – 94.715 Dollar (ca. 67.000 Euro). Das Silicon Valley hat seine eigene, weniger versteckte Armut, aber der Lebensstandard in der Stadt, insbesondere im bedeutendsten Hochtechnologie-Industriezentrum, ist viel höher als der von Benito County. Hier betrug der Durchschnittslohn 2009 ein Drittel von Silicon Valley – 37.623 Dollar. Im letzten April (2010), als die Rezession die Arbeitslosigkeit in Kalifornien auf 12 Prozent hob, betrug sie in Santa Clara 10,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit in San Benito County war genau doppelt so hoch – 20,6 Prozent.

San Benito County ist keine Ausnahme. In ganz Kalifornien und darüber hinaus, sind in ländlichen Gebieten Arbeitslosigkeit höher und Einkommen niedriger als in benachbarten Stadtregionen. Die Arbeitslosigkeitsrate in Imperial County betrug im März 30 Prozent, wahrscheinlich die höchste im Staat. Die Ökonomie der Grafschaft hängt gänzlich von Landwirtschaft und Landarbeit ab. Orange Cove und San Joaquin, zwei Landarbeiterstädte in Fresno County, hatten 2009 jeweils ein jährliches Prokopfeinkommen von 8.000 und 7.500 Dollar. Bei der Mehrzahl ihrer Bewohner handelt es sich um Immigranten aus Mexiko.

Consuelo Aguilar (Foto: David Bacon)Während einer Rezession sinkt das Einkommen der meisten Arbeiterfamilien. Doch auf dem Land sinkt es schneller und tiefer. Als vor 20 Jahren die ‘Benito County Gemeinschafts Lebensmittelhilfe’ unter dem Namen ‘Gemeinschafts Speisekammer’ aufmachte, versorgte sie 35 Familien. Letztes Jahr gab sie pro Woche 1.750 Vorratsbeutel an über 5.000 Menschen aus. Die Hälfte davon Kinder, viele aus Familien, die auf den Feldern arbeiten.

Zu Frühlingsbeginn eines jeden Jahres steigen viele dieser Familien in ihre großen Lieferwagen im Rio Grande Valley in Texas oder im Salt River Valley in Arizona und brechen nach Hollister auf, der größten Stadt von San Benito County. Generationen von Familien haben sich auf diese jährliche Wanderschaft begeben, um in der Konservenindustrie von San Benito zu arbeiten oder auf den örtliche Feldern mit den Maschinen die Tomaten zu ernten, die dort eingedost werden.

Juana Rizo (Foto: David Bacon)Dieses Jahr, so sagen Harley und Emillio Delgado, gab es wirklich wenig zu tun.

“Letzte Woche haben wir Aprikosen gepflückt. Es liegt am Wetter – es hat viel geregnet und war nicht wirklich warm”, wie Harley sagt. Die beiden wohnen im Wanderarbeiterlager, das im Süden der Stadt in den 40’er Jahren eingerichtet wurde, um die Feldarbeiter unterzubringen, welche die örtlichen Bauern benötigten. Heute besteht ein Teil des Lagers aus Wohnwagen und ein anderer aus Gebäuden, die nach dem Krieg gebaut wurden.

Jeden Samstag manövriert Israel Banuelos seinen Transporter aus einem Abstellplatz hinter dem Lagerhaus am anderen Ende von Hollister, in dem die Lebensmittelhilfe der Grafschaft untergebracht ist. Der Laster ist voller Lebensmitteltüten und das Arbeiterlager ist sein erster Halt. Die Delgado Brüder gehören zu den vielen, die Schlange stehen.

Der Fahrer Israel Banuelos und Helfer Erik Rivera geben Tüten mit Lebensmittel aus (Foto: David Bacon)Das ist eine der großen Ungereimtheiten an der Armut in Amerika. Menschen die ihr Arbeitsleben damit verbringen, die Lebensmittel herzustellen, welche von Millionen in den Städten des ganzen Landes verbraucht werden, haben oft selber nicht genug zu essen.

Hier im Wanderarbeiterlager, benötigen Feld- und Fabrikarbeiter Lebensmittel aus dem Transporter, zum Teil, weil es wenig Arbeit gibt. “Doch selbst wenn es mehr zu tun gibt, warten hier immer noch eine Menge Familien auf die Lebensmittelbeutel”, sagt Banuelos, “manchmal sind hier mehr als heute, die Leute brauchen sie wirklich. Ich weiß nicht, was sie tun würden, wenn wir nicht jede Woche vorbei kämen. Ich habe das Gefühl, etwas sehr wichtiges zu machen, indem ich ihnen helfe zu überleben.”

Sandra und Samantha Tello (Foto: David Bacon)Nachdem der Laster das Wanderarbeiterlager verlassen hat, macht er sich wieder auf den Weg in die Stadt zurück, zur Rancho Wohnsiedlung. Die geförderten Wohnungen wurden in Zuge der politischen Veränderungen gebaut, welche die Landarbeiterbewegung in den 60’er und 70’er Jahren bewirkt hatte.

In diesen Jahren, zur Hochzeit der organisierten Landarbeit, war Hollister eine Hochburg der Gewerkschaft. Jose Luna (im Englischen als Joe Moon bekannt), war ein kleiner, bescheidener Landarbeiter, der sich zu einem der besten Organisatoren der Gewerkschaft mauserte. Er kam in den späten 60’er Jahren nach Hollister und organisierte die tausend Weinleser von Almaden Vineyards, was damals einer der größten Weinproduzenten der Welt war. Als Luna ging, bestand sein Erbe nicht nur aus arbeitsvertraglichen Regelungen, sondern aus einer von den Arbeitern selbst geführten Gewerkschaft.

Julio Cervantes (Foto: David Bacon)Jeden September, wenn die Weinlese auf den Feldern von Paicines anfing, stiegen eine halbe Stunde weiter südlich hunderte Männer und Frauen beim winzigen Gewerkschaftsbüro in der Second Street von Hollister ab. Von dort schickte das Ranch-Komitee, das gewöhnlich von Roberto San Roman geleitet wurde, die Arbeiter auf die Felder. Das Büro wurde von den Arbeitern betrieben. Der Vertrag der Gewerkschaften sorgte für höhere Akkordlöhne und so konnte eine Familie welche in der neunwöchigen Saison bei Almaden arbeitete genug verdienen, um nach Texas oder Arizona zurück zu kehren und es über die tote Zeit des Winters bis zum anschließenden Frühling zu schaffen.

Heute werden die Weingärten genau so intensiv bewirtschaftet wie immer, doch an Almaden Vineyards kann man sich kaum noch erinnern. Das Unternehmen verschwand in den 80’er Jahren. Anstelle des Vermittlungsbüros der Gewerkschaft stellen Zeitarbeitfirmen Arbeiter für die Ernte ein. Die Akkordlöhne sind gesunken. Die meisten der heutigen Landarbeiter waren kleine Kinder, als das Büro der Gewerkschaft zu machte. Ein paar der älteren Männer, wie Julio Cervantes oder Jose Manzo, die Lebensmittelbeutel vom Laster bekommen, sind alt genug, um sich erinnern zu können. Doch die meisten sind es nicht. Und obwohl der Latino Power Aufstand, der die Gewerkschaft in’s Leben rief, für die Existenz von Unterkünften an Orten wie der Rancho-Siedlung verantwortlich ist, fehlt den jungen Leuten die als erste die Lebensmittelbeutel in Empfang nehmen jede Möglichkeit, sich daran zu erinnern.

Mario Sosa bekommt Tüten mit Lebensmittel für seine Familie in der Rancho-Siedlung (Foto: David Bacon)Die Leute der Lebensmittelhilfe machen sich um diese Kinder Sorgen. “Wenn Jugendliche nur Nudeln, Brot oder Kekse zu essen bekommen, was bei vielen hier der Fall ist, können sie in der Schule nicht gut sein”, heißt es auf der Webseite. “Viele arme Familien müssen heute so leben und sich auf kohlenhydratreiche Nahrung verlassen die satt macht, aber schlecht ernährt”. In den Beuteln auf dem Laster gibt es Brot und sogar Muffins, aber es gibt auch Salat, Orangen und Lebensmittel, die weniger Übergewicht bei Kindern hervorrufen.

Nachdem Banuelos Laster leer ist, fährt er zum Lagerhaus zurück.

Am Nachmittag fährt der Laster nochmal los, diesmal auf der Suche nach Obdachlosen, die unter den Bäumen nahe der Bahnanlagen auf einem Hügel leben, von dem aus man die Innenstadt überblickt. Die alten Männer, die hier ihre Beutel bekommen, gehören nicht zu Landarbeiterfamilien. Das worüber sie reden, während sie auf Lebensmittel warten, legt ein ganz anderes Stück Geschichte der Arbeiterklasse von Benito County frei.

Peewee Rabello Sr. (Foto: David Bacon)Peewee Rabello Sr. ist einer der ersten. “Mein Sohn Manuel”, erklärt er, “fährt einen großen Sattelschlepper und sein Sohn, der ebenfalls Manuel heißt, hat nun auch damit angefangen einen zu fahren. In unserer Familie gibt es zehn Generationen von Manuels. Sie waren alle Lastwagenfahrer, Ich besitze ein Bild meines Ur-Ur-Großvaters – ich habe vergessen, wie viele “Ur-Ur” es sind – neben dem ersten T-Modell Laster mit einer Ladefläche hinten drauf.”

Außer Lastwagenfahren hat Rabellos Familie da gearbeitet, was für viele Jahre die wichtigste Branche der Grafschaft war, nämlich im Bergbau. So auch die Familie von Gene Castro, Rabellos Freund, der in der Warteschlange für Lebensmittelbeutel hinter ihm steht. Die New Idria Quicksilver Mining Company betrieb hundert Jahre lang in New Idria die zweitgrößte Quecksilbermine der Grafschaft und machte sie 1972 endgültig zu. Zu ihren besten Zeiten beschäftigte sie hunderte von Bergleuten.

Patricia Arballo (Foto: David Bacon)“Meine Großmutter war blind”, erinnert sich Rabello, “aber sie arbeitete in der Mine als Köchin und wusch die Kleidung der Bergarbeiter. Ich bin erstaunt, daß sie all das tun konnte, aber zu dieser Zeit war das die einzige Möglichkeit wie sie überleben konnte. Als ich noch ein kleiner Junge war, nahm sie mich an die Hand und brachte mich auf die andere Straßenseite. Ich hatte nie Angst. Sie konnte sagen, wenn gerade Autos kamen. Ich vermute sie konnte sie [rechtzeitig] hören”.

Heute ist die Mine zwischen den Hügeln südlich von Paicines, zwischen dem Salinas und San Joaquin Tal eine Geisterstadt. Die Hälfte der verlassenen Gebäude ist von wenigen Jahren niedergebrannt. Der Ort steht auf der Superfund-Liste der EPA [d.h. von der amerikanischen Umweltbehörde wurden Mittel zur Sanierung bewilligt], weil aus den geschlossenen Schächten mit Quecksilber belastetes Wasser in den San Carlos Creek leckt und von dort in den San Joaquin River und in die San Francisco Bay gelangt. Außerdem enthält das Gestein von New Idria sehr viel kurzfaserigen Asbest.

Die Familien von Rabello und Castro, müssen wie die von anderen Bergleuten, über diese hundert Jahre sehr viele Krankheiten erlitten haben. Quecksilber ist ein Gift und verursacht die Minimata-Erkrankung [chronische Quecksilbervergiftung] und andere Arten von Nervenschäden. Arbeiter die mit Asbest in Kontakt kommen, handeln sich das Mesotheliom ein, eine schmerzhafte und tödliche Form von Lungenkrebs.

Nun haben die Nachkommen jener Familien, wie Peewee und Gene kein Zuhause, keine Arbeit und oft nicht genug zu essen. Während der Laster jeden Samstag hier her kommt, sind sie von den Tüten die er bringt abhängig, um die nächsten sieben Tage über die Runden zu kommen.

Teresa Perez (Foto: David Bacon)Rabello ist trotzdem kein passiver Empfänger von Lebensmitteln. Er öffnet seine Brieftasche und zieht einen sorgfältig gefalteten Brief nach dem anderen heraus. In kleiner, enger Schrift fordert jeder, daß Mitglieder des Congress und andere lokale Politiker für ein staatliches Gesundheitsprogramm stimmen.

“Wir brauchen irgend eine Art von gesellschaftlicher Medizinversorgung,” sagt Rabello, “damit Arme diese bekommen können”.

Er weiß, daß wir in der Zeit von Bugetkürzungen leben, doch das ist ihm egal. “Ich werde weiter schreiben”, sagt er, “egal was kommt”.

Aus der selben Brieftasche zieht er eine Visitenkarte der Fernfahrer Seelsorge. “Ich bete sogar dafür”, sagt er.

Der Originaltext "Hunger Stalks California’s Rural Communities" wurde von t r u t h o u t mit Bildmaterial vom Autor unter der Creative Commons Lizenz: by-nc veröffentlicht. Für diese Übersetzung gilt das Lizenzmodell dieses Blogs.

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Erstellt: 21. Juli 2011 00:29
Geändert: 15. Oktober 2011 13:37
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