Initiative Pro Netzneutralität

Von ungenutzten Brachen in der Stadt zu Lebensmitteln auf dem Tisch

23. Juli 2011 00:11

Wie man Lebensmittel da wachsen läßt, wo man sie braucht.

Autor: Madeline Ostrander, 17. September 2010 für YES! Magazine
Übersetzung: BrunO

Als ich vor neun Jahren das erste Mal nach Richmond in Kalifornien kam, gab mir mein Bekannter, der in einem umfunktionierten Lager ein Aufnahmestudio für Punk-Musik betreibt den Rat, unser Auto nicht auf der Straße zu parken. Am Vortag sind Vandalen durch den Block gezogen und haben mehrere Autoscheiben eingeschlagen.

Wenigsten ein paare Dinge sind seither in Richmond dabei, sich zu verändern: Neben einem Fahrradweg liegt ein “Beerengarten” im Iron Triangle (Eisendreieck), ein Nachbarsgebiet des Stadtzentrums, das an drei Seiten von alten Eisenbahntrassen begrenzt wird. Einmal im Monat versammeln sich latino und afro-amerikanische Familien in dem Garten zu einer Grillparty, oft Leute die nur ein paar Blocks voneinander entfernt wohnen, aber in der Vergangenheit kaum eine Möglichkeit hatten, einander zu treffen. Tomaten, Mangold und Mais wachsen in erhöhten, quer über die Fahrbahn angelegten Beeten. Muslim Familien aus der nur ein paar Blocks entfernten örtlichen Moschee pflücken frische Minze, um traditionellen arabischen Tee zu bereiten. Der Garten ist der Arbeit von "Urban Tilth" (Stadtackerbau) zu verdanken, eine von ungefähr einem Dutzend Gruppen im Zentrum von Richmonds urbaner Gartenbewegung. Er wurde von Mitgliedern der Gemeinde errichtet, viele jüngere Leute, und wird zum Teil von Schülern und Lehrern aus der Grundschule von nebenan betreut. Und er wurde ein Treffpunkt für die Gemeinde.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts hat Richmond geboomt und gleicht nun hunderten anderen Orte landauf landab, aus denen sich die Industrie zurück gezogen hat. Die Stadt ist vom größten Teil des kulturellen und ökonomischen Leben der East Bay Region abgeschnitten. Junge Leute finden keine Arbeit und ziehen weg, oder ihr Betätigungsdrang kommt in den falschen Aktivitäten zum Vorschein, Vandalismus, Banden, Kriminalität.

Den Leuten sagt man selten, was mit Grundstücken passieren soll, wenn ihre Stadt zerfällt. Doch in den letzten fünf Jahren haben einige Richmonder die Dinge in die eigene Hand genommen. Oft mit offizieller Erlaubnis, aber manchmal auch ohne. Über den größten Teil der Stadt haben sie über zwei Dutzend Gärten in öffentlichen Brachen und auf Schulgeländen angelegt. Urban Tilth nennt sie “Farmen” und letztes Jahr wuchsen 6.000 Pfund (über 2,7 t) Lebensmittel, die an duzende ansässige Familien gingen.

Viele Richmonder verfügen über Gärtnertraditionen, die mehrere Generationen zurück reichen. Sie wurden von Familien aus dem ländlichen Süden mitgebracht, die wegen den Arbeitsplätzen im Schiffsbau während des zweiten Weltkrieges her gekommen waren und von neueren Einwanderern aus den Agrarregionen von Zentral- und Südamerika. Doch viele Jugendliche aus Richmond kamen mit diesen Traditionen nicht in Berührung.

Nun führt die urban gardening Bewegung in Richmond zu einer kleinen aber radikalen kulturellen Veränderung. Urbaner Landbau wurde zu einem regulären Teil des Lehrplanes an zwei örtlichen Oberschulen. Bereiche in und um die Gärten, die in den vergangenen Jahren als unbetretbar und unsicher erschienen, wurden zu Treffpunkten, an denen Richmonder zum Picknick einladen, an der frischen Luft spielen, Beeren pflücken und radfahren.

Und duzende junger Richmonder haben die Möglichkeit erhalten, in einer Gemeinde etwas wachsen zu lassen von der sie dachten, sie habe kaum eine Zukunft.

Die zurück kehrenden Kinder

Der Zug verläßt Berkeley, vorbei an kilometerlangen Einkaufsmeilen, Schrottplätzen und verlassenen Lagerhallen, bevor er das Iron Triangle erreicht. Doria Robinson, Geschäftsführerin von Urban Tilth, trifft sich mit mir auf dem Bahnhof. Sie trägt eine Trainingshose mit Rennstreifen und redet fortwährend.

Die Enkelin eines passionierten Rosengärtners und Ministers aus der Gegend war eine von jenen Kindern der Stadt, die Richmond hinter sich ließen, sobald sie dies konnten.

“Ich wollte weg, wie die meisten Leute. Es war so, als ob hier Hopfen und Malz verloren gewesen wären. Niemand sprach jemals positiv über Richmond”, sagt sie.

Sie studierte an der Ostküste und lebte mehrere Jahre in San Francisco. Vor fünf Jahren kam sie zurück, um auf das Haus ihrer Großtante aufzupassen und begann bei Urban Tilth zu arbeiten. Nun, 36 Jahre alt, beschäftigt sie sich damit, Jugendliche wieder mit dem Beziehungsgeflecht der Gemeinde zu verknüpfen.

Robinson und ihr Kollege Adam Boisvert fahren mich mit einem Kleintransporter durch die Stadt, zuerst zum Beerengarten und dann zur Richmond High School, eine von den zwei Urban Tilth Farmen auf einem Schulgelände.

Wir müssen durch ein paar Sicherheitskontrollen und durch einen Sicherheitszaun aus Metall, bevor wir den gepflasterten Schulhof der Richmond Oberschule betreten können. Die Schule ist noch nicht zur Ruhe gekommen, seitdem eine ihrer Schülerinnen von einer Gruppe von Teenagern im letzten Herbst auf dem Nachhauseweg vom Tanzen vergewaltigt worden war.

Hinter den rostfarbigen Wohnwagen, die als zusätzliche Klassenzimmer dienen, gibt es 12 Gemüsebeete und einen Schuppen, aus dem man ein Gewächshaus gemacht hat. Etwas außerhalb und hinter einem Fußballfeld, gibt es sechs lange, erhöhte Reihen mit ungefähr 75 Quadratmetern Anbaufläche. Sie wurden im Februar (2010) von 67 Oberschülern, Lehrern, Verwaltungsangestellten und Freiwilligen aus der näheren Nachbarschaft angelegt.

Eine dreißigköpfige Klasse hat Mangold, Tomaten, Karotten, Paprika und Bohnen mit Hilfe von Urban Tilth Leuten und einem vom Bezirk bezahlten Lehrer angepflanzt. Der Inhalt ihrer Unterrichtseinheit “Urbane Ökologie und Nahrungsversorgungssysteme” ist ein wenig subversiv. Es geht um Gerechtigkeit, Ernährung, Nahrungswüsten, Öl und warum manche Menschen aus der Ökonomie heraus fallen.

Robinson findet an einer gewissen “Handele jetzt – entschuldige Dich später” Einstellung Gefallen, wenn es darum geht, Anbaufläche zu bekommen. An der Richmond Oberschule begann das Projekt, als Schüler einen alten Garten wieder in Ordnung bringen wollten, der seit Jahrzehnten vernachlässigt worden war. An anderen Schulen hat Urban Tilth von Mitarbeitern und Lehrern Schlüssel bekommen und Hausmeister/Platzwarte überredet, das Wasser anzustellen. Danach wurde die Verwaltung um Erlaubnis gefragt. Lediglich im vergangenen Halbjahr hat der Schulbezirk selbst einen formellen Grundstück-Nutzungsvertrag mit der Organisation ausgehandelt.

Ich fragte einen Gebäudetechniker der Schulbezirksverwaltung, wie Urban Tilth mit seinen vier Schulgärten angefangen hat. “Sie taten es einfach. Nett, nicht?” sagte er, ein bißchen süffisant.

Jugendlicher Elan treibt die zwanzig und mehr Urban Tilth Aktivisten an. Leute die gerade einen Abschluß gemacht haben, die etwas tun wollen, Studenten und nicht einfach nur Vorzeigestudenten. Tania Pulido, 21 Jahre, kam letzten Oktober zu Urban Tilth, nachdem sie, wie sie selber sagt, eine “Problem-Jugendliche” war.

“Ich habe die Schule oft sausen lassen und habe gerade so den Abschluß geschafft”, sagt sie. Nun studiert sie Medien und Film, ist eine politische Aktivistin und leitet Gartenprojekte am Radweg (Richmond Greenway Trail) und an den Schulen.

Sieben der Elf Mitarbeiter von Urban Tilth sind unter 30 und mehrere begannen als Lehrlinge aus der Oberschule. Jessie Alberto gehörte zu jenen Schülern der Richmond Oberschule, die den Schulgarten wiederbelebten. Nun, mit 20, unterweist er Schüler der Richmond und Kennedy Oberschulen im Gärtnern. Er mag die Bezeichnung “Verhaltensstörung” nicht.

“Ich sage lieber, wir haben Kinder mit sehr viel Energie”, sagt er. Er setzt diese Kids dem Gruppenzwang bei arbeitsintensiven Projekten aus, Unkraut jäten, stutzen und umgraben. “Das Nachdenken und die intensive Arbeit beruhigt sie”, sagt er.

Garten und Recht

Wenn man auf Land sät, das einem nicht gehört, stellt sich eine grundlegende Frage. Wenn sich Parkplatzstreifen und verlassene Brachen mit Blumen und Obstbäumen füllen, erhöhen sich Grundstückswert, danach Miete und Steuern.

Daryl Hannah und Julia Butterfly Hill lenkten die Aufmerksamkeit der Nation auf die South Central Farm, der berühmte urbane Garten in Los Angeles, der von 350 Familien, überwiegend Latinos, kultiviert wurde. Doch ihre Bemühungen konnten den Grundstückseigentümer nicht davon abhalten, ihn zu planieren und ein Lagerhaus zu errichten. Was geschieht, wenn Grundstücke als potentieller Baugrund für Eigentumswohnungen oder ein Einkaufszentrum mehr wert sind, als ein öffentlicher Garten?

Mein letzter Halt mit Robinson und Boisvert ist die Adams Middle School, die letzten Herbst als Teil der Budget-Kürzungen des Schulbezirkes geschlossen wurde. Die Schule liegt oberhalb einer sich windenden Straße in den Erhebungen östlich des Stadtzentrums. In Richmond steigen die Grundstückspreise mit der Höhe, und die Schule liegt auf teuerem Grund.

Dort gibt es eine flache, runde Parzelle hinter einer Baumreihe, wo Urban Tilth Tomaten, eine altvordere Grünpflanze, die Purple Tree Collard [Gemüsekohl (Brassica oleracea)] genannt wird, Feigenkaktus, Karotten, Erbsen und Himbeeren angepflanzt hat. Boisvert und Pulido haben für dieses Stück Land einen Permakulturplan entworfen, einschließlich eines Regengartens und eines Auffangsystems für Wasser.

Der Schulbezirk nutzt diese Immobilie für Lagerzwecke. Boisvert und Robinson geben zu, daß das Grundstück Millionen wert ist. Der Schulbezirk hat nicht vor zu verkaufen, räumt aber ein, daß Urban Tilth den Garten höchstwahrscheinlich verlieren wird, falls das Grundstück einen Käufer anzieht. Robinson verhandelt mit einer örtlichen Grundstücks-Gesellschaft um herauszubekommen, ob sie bereit wären, den Garten zu kaufen und in Gebrauch zu halten.

In der Zwischenzeit hat die Stadt 26 Oberschul-Jugendliche angeworben um mit Urban Tilth im Rahmen eines Jugend-Sommerprogrammes zu arbeiten. Robinson plant ihre Energie zu nutzen, um einen neuen Obstgarten einzurichten.

Vor vier Jahren wurde Richmond zu einer der wenigen bedeutenden Städte des Landes, die einen Bürgermeister wählten, welcher der Grünen Partei angehört, Gayle McLaughlin. Unter der progressiven Ernährungspolitik des Bürgermeisters, im Rahmen eines Programmes das “Adoptiere einen Park” hieß, pflanzten örtliche Gartengruppen Blumen und Eßbares in städtischen Grünanlagen. Die Stadt stellte ihnen außerdem kostenloses Holz zur Verfügung, um erhöhte Beete einzufassen, alte Behälter, Holzschnipsel, Erde und alles, was man für einen Garten abzweigen und umfunktionieren kann. Der Stadtdirektor und der Bürgermeister und die örtlichen Gartengruppen verhandeln über eine urbane Nahrungsmittel-Verordnung. Gartenaktivisten hoffen, daß es einfacher wird, in den Vorgärten von Richmond Nutzpflanzen anzubauen, Zugang zu Wasser zu bekommen und Tiere wie Bienen, Hühner und Ziegen zu halten.

Ich frage Robinson, inwieweit sie sich Sorgen macht, die Zukunft von Urban Tilth könnten sich plötzlich ändern, wenn jemand anderes in der Stadtverwaltung das Sagen hat.

“Nein, nicht”, sagt sie. “Wirklich wichtig sind die Lebensmittel die wir anbauen und die Zeit, welche wir für die Leute aufbringen. Wir wissen, die Menschen in Richmond sind patente Leute. Wir haben hier eine riesige Reserve an Brainpower und eine historische Verbundenheit mit dem Boden. Und wir brauchen nur auf sie zu bauen, sie respektieren und ihnen vertrauen.”

Es geht hier um mehr als nur Lebensmittel und Boden. Wenn Urban Tilth aus Gartentraditionen beständige kulturelle Einrichtungen machen und mit einer Tomatenpflanze oder einen Himbeerwein einen Teenager überzeugen kann, daß Richmond wert ist, erhalten zu werden, dann werden ihre Bemühungen alles überleben, was den Gärten selbst widerfährt.

Madeline Ostrander schrieb diesen Artikel für die Herbstnummer 2010 des Yes! Magazine, A Resilient Community (Eine belastbare Gemeinschaft). Madeline ist Chefredakteurin von Yes! und zieht in ihren Garten eigene Kartoffeln.

Der Originalartikel steht unter einer Creative Commons Lizenz: by-nc-sa. Für diese Übersetzung gilt das Lizenzmodell dieses Blogs.

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Erstellt: 23. Juli 2011 00:11
Geändert: 23. Juli 2011 00:11
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