Initiative Pro Netzneutralität

Occupy Berlin: Im Schatten des Reichstags

20. Oktober 2011 21:55

Autor: Dina Rasor für   T r u t h o u t , 19.10.2011
Übersetzung: BrunO

© Foto: Brainbitch CC: by-nc via flickrIch hatte nicht vor, für die "Solutions" von dieser Woche [42. KW] eine Kolumne zu schreiben, da ich in Europa Urlaub mache. Ich stieß jedoch auf eine Gruppe, die damit beschäftigt ist, Lösungen [engl. Solutions] zu finden, während ein sich aufzulösen drohendes Europa versucht, seine Banken und seine Ökonomie [erneut mit Steuergeldern und Sparmaßnahmen] zu retten. Dem kommt in Anbetracht des Ortes, wo diese Demonstration stattfand, eine besondere Bedeutung zu. Deshalb mußte ich darüber schreiben.

Ich war für ein paar Tage in Berlin und entschied mich am Sonntag für meinen Lieblingsspaziergang vom Berliner Dom (die größte Kirche), über den Boulevard Unter den Linden, zum Brandenburger Tor. Dann bog ich ab um den berühmten Deutschen Reichstag anzusehen, der einen Brand überstand, von dem viele der Ansicht sind, Hitler hätte ihn gelegt, um die Macht an sich zu reißen. Er überstand starke Beschädigungen im zweiten Weltkrieg, genau hinter ihm verlief die Berliner Mauer und er gewann seine Bedeutsamkeit als Symbol des vereinigten und freien Deutschlands zurück. 1964 besuchte ich Ostberlin das erste Mal, als ich zehn Jahre alt war und viele der schönen Gebäude die es immer noch in Ostdeutschland gibt, wie z.B. die Oper oder das Brandenburger Tor, trugen noch Brandspuren der Verwüstungen des zweiten Weltkrieges. Die Berliner Mauer war häßlich und erschreckend und ich erinnere mich, wie uns ein amerikanischer Militärangehöriger erzählte, daß wenige Wochen vorher jemand bei bei einem Fluchtversuch im Stacheldraht erschossen worden war.

Als ich 1987 Berlin erneut besuchte, stand die Berliner Mauer noch und ich nahm an einer Konferenz für Nachwuchsführungskräfte des Westens im Reichstag teil. In der großen Halle, in welcher die Konferenz stattfand, gab es einen sehr langen Vorhang, der die Fensterreihe an der Vorderseite der Halle verbarg. Als die Redner fertig waren und wir uns zum diskutieren in kleine Gruppen aufteilten, wurden die Vorhänge aufgezogen, um die Berliner Mauer sichtbar zu machen, die von der Rückseite des Reichstages nur wenige Meter entfernt war. Im Raum wurde es still, während die Anwesenden sich der fehlenden Freiheit bewußt wurden und den Mief der Tyrannei nur wenige Meter entfernt wahr nahmen – und ich bin mir sicher, daß sich kaum jemand in dem Raum hatte vorstellen können, daß diese Mauer noch zu ihrer Lebenszeit zwei Jahre später fallen würde.

Mein letzter Berlinbesuch vor diesem war 2007. Obwohl die Berliner Mauer 1989 gefallen war, erlebte ich meine Momente der Feier und Freude als ich das erste Mal durch das Brandenburger Tor ging und über die Schönheit und Kultur staunte, die aus den häßlichen Spuren des zweiten Weltkrieges und der Narbe der Berliner Mauer wieder hergestellt worden war. Deutschland hatte Fortschritte gemacht, eine der eher friedlichen Nationen dieser Erde zu werden und verwendete seine ganze Kraft darauf, zu den wohlhabendsten Nationen Europas zu gehören. Dies war für mich ein – gleichermaßen befreiender Augenblick des Triumphes über Kriege, wie die vergangen Reisen, was die Wirkung der Tyrannei anging, ernüchternd waren. Es war ein ergreifender Augenblick, als ich bemerkte, daß das große Holocaust Mahnmal in der Nähe des Ortes gebaut wurde, wo sich Hitlers Bunker befand.

Bei diesem Besuch wußte ich noch nicht, daß ich 2008 vor dem Fernseher sitzen werde, während 250.000 Deutsche einem schwarzen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten wild zujubeln, als er im Tiergarten, Berlins zentraler Park nahe dem Reichstag, eine Rede hält. Auch dies fand nicht weit von da statt, wo Hitler starb. Was würde er über dieses Deutschland denken und hätte während des kalten Krieges irgend jemand von uns es für möglich gehalten, daß sich all dies noch zu unserer Lebenszeit ereignen könnte?

Deshalb dachte ich, nichts käme den Eindrücken meiner vorausgegangenen Berlinbesuche nahe, doch als ich um die Ecke zum Reichstag bog, hörte ich jemand “Mike check!” brüllen und danach hörte ich eine Menge von ungefähr 200 Leuten in einer großen Runde vor dem Reichstag im Chor sprechen. Ich wußte sofort, daß ich Occupy Berlin gefunden hatte.

Als ich am späten Samstag Nachmittag in Berlin angekommen war, sah ich die Überbleibsel des großen Marsches [15O], der in Berlin und weltweit stattgefunden hatte und bekam auch mit, daß die Polizei mit Gewalt eingriff, als die Demonstranten versucht hatten, vor dem Reichstag Zelte für die Besetzung aufzubauen. Doch als ich mich zu dem Kreis begab, stand die Polizei untätig im Hintergrund und griff nicht in die Demonstration ein. Aufgrund der Nachrichten, die ich am Vortag gehört hatte, nahm ich an, daß sie etwas bedröppelt waren und gemerkt haben, daß das jugendliche und lebensfrohe Berlin nicht mochte, was sich am Vortag abgespielt hatte.

Das erste was mich sehr erstaunte, als ich am Rand der Menge zuhörte war, wie gut das menschliche Mikrofon funktionierte. Wie bei den Demonstrationen von Occupy Wall Street in New York, wo dieses “Mikrofon” benutzt wurde, weil man ihnen keine elektrische Verstärkung gestattet hatte, sagt der Sprecher ein paar Worte und wartet, während die Menge diese wiederholt, so daß jeder Anwesende das Gesprochene mitbekommt. Das ist nicht nur wirkungsvoll, sondern der Sprecher muß über das was er sagt nachdenken und die Menge muß aufmerksam zuhören, um es wiederholen zu können und die Wiederholung prägt es bei den Leuten besser im Gedächtnis ein. Ich habe mit meinem iPhone ein paar der Diskussionen als Video mitgeschnitten, wie Sie unten sehen können. Leider ist mein Deutsch lausig und ich konnte nur jedes dritte Wort verstehen. Doch als ich die Runde filmte, fiel mir auf, daß ich auch den Reichstag im Hintergrund hatte, während diese überwiegend jungen Deutschen über die ökonomische Tyrannei diskutierten, welche die USA und Europa befallen hatte. Ich kann weiterhin berichten, daß es eine umsichtige und höfliche Gruppe von Menschen war, die darauf achtete, daß jeder die Gelegenheit zum Reden bekam und daß jeder zuhören konnte. Wer sprechen wollte, stand auf und sagte “Mike check” und fing so an, das menschliche Mikrofon zu benutzen. Es war faszinierend, obwohl ich das was die meisten von ihnen erzählten nicht verstand.


Video streaming by blip.tv

Zum Glück war einer der Demonstranten bereit, mein Video zu übersetzen (Danke Jovo!) und nun weiß ich, was die Redner gesagt haben. Erstaunlicherweise stellte ich fest, daß sie genau das diskutierten, was mir durch den Kopf gegangen war – daß sie vor hatten, vor dem Reichstag zu bleiben, während die Polizei ihnen vorschlug, sich in einen anderen Teil des Parks zu begeben und die Menge in kleinere Gruppen aufzuteilen. Sie beschlossen, daß die symbolische Bedeutung des Ortes an dem sie sich befanden zu bedeutend war, um sie aufzugeben und sie sorgten dafür, daß alle Kameras sie vor diesem Gebäude zeigen werden, das so viele politische Turbulenzen überlebt hat.

Ganz spontan stand ich auf und sagte “Mike check!”. Sie waren freundlich als ich erzählte, daß ich Amerikanerin bin und englisch sprechen muß, because “meine Deutsch ist nicht gut”. Ich erzählte ihnen, daß ich eine Journalistin bin die für das Online-Medium Truthout.org arbeitet und ich war über 15 bis 20 Leute sehr erstaunt, die ich in der Menge ausmachen konnte, die laut “Ja!” riefen und winkten, um zu zeigen, daß sie Truthout kennen. Ich berichtete ihnen, daß Truthout als eine der ersten Nachrichtenquellen über Occupy Wall Street geschrieben hat und daß ich sehr stolz bin, hier auf ihrer Demo zu sein, während die Bewegung sich international ausbreitet. Weiter sagte ich ihnen, wie bedeutend es wäre, daß diese Demo vor dem Reichstag stattfindet, der einst ein Symbol der Tyrannei war und daß wir nun gegen eine neuartige ökonomische Tyrannei zu kämpfen hätten. Dieser letzte Kommentar verursachte große Resonanz. (Das war, bevor ich wußte, daß sie genau darüber diskutierten und vielleicht habe ich unbewußt mitbekommen, worüber sie sprachen.)

Dies war ein weiterer Augenblick in Berlin, den ich nie vergessen werde. Doch ich möchte die Leser von Truthout wissen lassen, daß diese Gruppe sehr konzentriert arbeitete, jeden mit Respekt behandelte und entschlossen war, ihren Teil zu dieser neuen Bewegung beitragen zu wollen. Berücksichtigt man, daß diese Bewegung vor kaum mehr als einem Monat anfing, ist es erstaunlich, daß die Formel [Ort besetzen, human microphone, Asamblea usw.] die mit Occupy Wall Street eingeführt wurde, derart perfekt auf andere Länder und andere Gruppen übertragen werden konnte.

Doch dieser von Symbolismus durchtränkten Tag war für mich damit noch nicht zu Ende. Nachdem ich ausgeredet hatte, kam ein junger Iraner auf mich zu um mit mir zu sprechen. Er war ein Truthout-Leser und freutet sich, daß ich da war. Er war seit frühester Jugend ein Journalist und Blogger im Iran, der über die Reformbewegung schrieb. 2007 stürmte die Polizei seine Wohnung, beschlagnahmte all seine Schriften und seinen seinen Computer und nahm ihn fest. Er wurde in der berüchtigten Abteilung 209 des Evin-Gefängnisses zwei Monate lang in Isolationshaft gehalten, das vom Geheimdienst-Ministerium betreiben wird. Sie verlangten eine hohe Kaution, doch seine Eltern konnten das Geld nicht aufbringen. Schließlich wurde die Kaution verringert und er wurde entlassen. Er wußte, daß er kein faires Gerichtsverfahren bekommen wird und entkam mit Hilfe einer deutschen Journalisten-Organisation nach Deutschland. Er hält seine Kontakte in den Iran aufrecht und weiß über die anhaltende Unterdrückung im Iran und über die fortwährenden Versuche sehr gut Bescheid, jede Bewegung zu zerstören, die das Land von seiner Tyrannei befreien will.

Wir unterhielten uns darüber, daß vor ein paar Tagen Bill Kristol, der Herausgeber des Weekly Standard behauptet hatte, die USA hätten aufgrund des jüngsten Vorfalles, einem angeblichen Attentatsplan gegen den saudischen Botschafter in Washington, eine in Stein gemeißelte Einladung, gewaltsam gegen den Iran vorzugehen. Ironischerweise erzählte mir dieser junge Journalist, daß die militärische Fraktion im Iran versucht, einen Krieg gegen die USA anzustacheln, um von ihren internen Problemen abzulenken und alle weiteren Versuche eines “iranischen arabischen Frühlings” zu unterbinden. Auch am nächsten Tag traf ich mich mit diesem jungen Journalisten und ich habe mir vorgenommen, daß die Leser von Truthout und andere den größten Teil der Weisheit, welcher dieser junge Mann anzubieten hat, mitbekommen. Ihm wurde in Deutschland geholfen, doch sie sind nicht besonders daran interessiert oder es ruft keine Besonderen Reaktionen hervor, was im Iran geschieht. Darum will ich es darauf ankommen lassen, ob seine Stimme nicht in den USA gehört wird. Er hat sehr viel zu bieten und hat bereits einen sehr hohen Preis für seinen Kampf gegen die Tyrannei in seinem Land bezahlt.

Was also als Urlaub anfing, hat sich für mich als weiterer inspirierender Augenblick in Berlin herausgestellt. Als investigative Journalistin, die seit über 30 Jahren Betrug durch Vertragsunternehmen in der amerikanischen Bundesregierung aufgedeckt hat, insbesondere im Verteidigungsministerium, mußte ich erst erkennen, daß es möglich ist, Unterdrückung und Tyrannei zu überwinden, wenn wir ausdauernd daran arbeiten. Diese neue, große Aufgabe wird Zeit und Anstrengungen erfordern, doch es gibt eine neue Generation, die dazu entschlossen ist, das Finanzsystem und die Regierungen der Welt davon abzuhalten, nur jene Leute zu füttern, welcher die nationalen Regierungen um jene Ressourcen bestehlen, die für das Gedeihen unserer Gesellschaften benötigt werden.


Der Originalartikel "Occupy Berlin: In the Shadow of the Reichstag" steht unter der Creative Commons Lizenz: by-nc. Für meine Übersetzung gilt das Lizenzmodell dieses Blogs.


Über die Autorin:

Dina Rasor setzt sich für Transparenz, Verantwortung und gegen Mittelverschwendung ein. 1981 gründete sie das Project on Government Oversight (POGO – Projekt zur Beaufsichtigung der Regierung), das dafür gedacht ist, als gemeinnützige, unparteiliche Einrichtung die militärischen Ausgaben der Regierung zu überwachen. Rasors letztes Buch “Betrug an unseren Soldaten: die schädlichen Folgen der Privatisierung von Krieg” (Betraying Our Troops: The Destructive Results of Privatizing War), protokolliert authentische Berichte, welche verheerenden Folgen die Privatisierung der Truppenversorgung hat und was der Irak-Krieg wirklich kostet. Sie hat außerdem die Bauman & Rasor Group gegründet, die Whistleblowern helft, nach einem bestimmten Gesetz (False Claims Act) ein Verfahren anzustrengen, das es ermöglicht, Steuermittel in dreifacher Höhe des angerichteten Schadens zurück zu fordern. Sie war an solchen Verfahren beteiligt, bei denen über 100 Millionen Dollar an das Finanzministerium zurück flossen.



Ich möchte als Übersetzer einen weiteren inspirierenden Augenblick mit einer sympathischen Komik beitragen. Was die Berliner vor dem Reichstag machen, wird mittlerweile per Stream in die Welt gesendet. Am 17.10.2011 sah ich zufällig, wie sich ein Polizeibeamter ohne Kriegsausrüstung mitten unter die Demonstranten begeben hatte und mit diesen verhandelte. Auch dabei kam das von Dina beschriebene menschliche Mikrofon zum Einsatz. D.h. die Demonstranten wiederholten jeden Satz des Beamten im Chor und dieser spielte brav mit. Also könnte die Polizei bei ihren nächsten Einsätzen ebenfalls auf elektrische Sprachverstärkung verzichten. Die sind doch immer genug Leute, um einen kräftigen, der staatlichen Gewalt angemessenen Sprechchor abzugeben. Das stelle ich mir de-eskalierend vor und wie Dina schreibt, fördert das menschliche Mikrofon sowohl das Zuhören, als auch eine Formulierung mit Bedacht.

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Erstellt: 20. Oktober 2011 21:55
Geändert: 21. Oktober 2011 22:20
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