Initiative Pro Netzneutralität

Am Rand des Abgrunds wohnen

12. Januar 2012 21:16

Autor: Frauke Decoodt, Blog, 07.01 2012
Übersetzung: BrunO

Ohne Verbindung zur Occupy-Bewegung in Nordamerika und Europa besetzt eine Bewegung aus Slumbewohnern in Guatemala die Straße vor dem Kongreßgebäude. Sie protestieren gegen die Lebensbedingungen in den Slums und gegen eine untaugliche Wohnungspolitik. Um ihre Situation zu verändern, haben sie nicht nur den Kongreß besetzt, sondern auch ein Gesetz entworfen und schließlich einen Hungerstreik angefangen.

© Foto: Frauke Decoodt – Slideshow

Da sich Krise und Armut in der westlichen Welt verschärfen, besetzen nun Aktivisten in Europa und Nordamerika überall die Parks der Städte.

In Guatemala City gibt es jedoch eine unabhängige Bewegung, deren Aktivisten die Straße vor dem Kongreß schon seit dem 22. August 2011 besetzt haben. [Der Zuccotti-Park wurde am 17. September besetzt.] Hier wurden keine warmen Unterkünfte für Zelte aufgegeben, eher wurden miserable Hütten gegen Zelte ausgetauscht. Die Aktivisten aus den Slums haben versprochen nicht weg zu gehen, bevor das “Wohnungsgesetz” angenommen wurde – sie fordern eine Lösung der Wohnungskrise in Guatemala. Der Mangel an bezahlbaren Unterkünften zwingt unzählige Guatemalteken in Elendsviertel, wo die unsicheren Lebensbedingungen oft tödliche Folgen haben. Am 22. November wurde das Gesetz, für das man seit Jahren kämpft, wieder einmal nicht beschlossen. Als Reaktion haben drei Menschen aus dem Camp vor dem Kongreß einen Hungerstreik begonnen.

Die Slums von Guatemala

Egal wo man im Camp hinsieht, gibt es Spruchbänder. Die khakifarbenen Zelte wurden in den Elendsvierteln nach einer Naturkatastrophe verteilt. Strom gibt es von einer Schule in der Straße und Mobiltoiletten wurden von unterstützenden Sozialbewegungen gespendet. Im Lager glimmt ein Kohlefeuer. Die mich begrüßenden Aktivisten, überwiegend gesprächige Frauen und ihre Kinder, ignorieren im Allgemeinen Fernsehteams. “Die Bedingungen hier sind besser als da wo wir wohnen”, versichern sie mir.

Die Protestierenden gehören zu den geschätzten 1,5 Millionen Bewohnern der Slums von Guatemala. Elendsviertel gibt es überall, in den Städten und auf dem Land. Aktuelle genaue Zahlen gibt es nicht. Im Camp hält Roly Escobar, der sympathische Vertreter der CONAPAMG Organisation, eine Versammlung mit ein paar Mitstreitern ab. Wir suchen uns eine ruhige Ecke zum reden. Escobar kennt die Situation sehr genau, da er sich seit Jahren für die Rechte armer Viertel einsetzt. Nach seiner Aussage leben über 800.000 Familien in den Hütten der 982 Slums von Guatemala. Ungefähr 420 davon befinden sich in oder um Guatemala City. Fachleute sagen, daß ein Fünftel bis zu einem Drittel der 2,5 Millionen Bewohner des Hauptstadtgebietes an prekären Orten wohnen.

© Foto: Frauke Decoodt 
Die Bewohner nennen ihre Elendsviertel “Siedlungen”. Nach ihrer Ansicht ist das eine würdigere und passendere Beschreibung, da die Größe der Siedlungen von einem Haus bis zu einer kompletten Nachbarschaft variieren kann. “Nur arme Menschen leben in den Siedlungen. Sie sind gezwungen, sich auf Land nieder zu lassen, das ihnen nicht gehört”, sagt Escobar. “Oft handelt es sich um Brachland auf dem niemand wohnen möchte, am Rand von Schluchten, an Steilhängen und am Rand von oder auf Müllkippen.”

Nachdem er von den Straßen weg zog, um in den Slums zu wohnen, wurde Luis Lacán sehr schnell klar, woran es den Bewohnern fehlt und welche Probleme sie haben. Er wurde Mitglied von UNASGUA – eine Organisation, die jenen rechtlich beisteht, die für eine Verbesserung der Bedingungen in den Slums kämpfen. Als wir in seinem bescheidenen Büro sitzen erklärt Lacán, “die Bedingungen sind unzulänglich, da es auf dem zum Wohnen in Beschlag genommenem Land ohne Ausnahme nichts gibt, kein Wasser, kein Strom, keine Kanalisation, kein Straßenbelag, nichts”.

Lacán macht sich um seine Mitbewohner im Slum Sorgen. Er erklärt, man darf keinen Wasser- oder Stromanschluß ohne den Nachweis einer Nutzungsberechtigung legen. Die Siedlungen werden nicht von regionalen oder städtischen Entwicklungsplänen erfaßt und deshalb sind keine Ausgaben für Infrastruktur vorgesehen. Das hat manchmal für die Sicherheit und Gesundheit der Bewohner katastrophale Folgen.

Mit der Zeit fangen die Bewohner oft an, die Dinge selber zu regeln, manche Gebiete bekommen Strom und Wasser, manche Hütten fangen an Häusern zu ähneln, während andere immer noch an Verschläge aus Wellpappe erinnern. Doch ungeachtet des Alters einer Siedlung bleibt die Angst vor einer Räumung ohne Legalisierung stets präsent.

In den Slums überleben

“Die meisten Familien in unseren Vierteln leben in Häusern aus Wellblech, Pappe und Plastik. Manche Familien haben nicht einmal das”, sagt Brenda, eine der Aktiven, die vor dem Kongreß kampieren. Eine junge Mutter namens Julia fügt hinzu, “ohne Kanalisation fließt das ganze Abwasser aus der umliegenden Nachbarschaft an unseren Hütten vorbei, Hütten mit blanker Erde als Boden. Dies ist eine Brutstätte für Krankheiten und Infektionen. Unsere Kinder werden krank, manchmal sterben sie, nur weil sie keine angemessene Wohnung haben. Meine Tochter war achtzehn Monate alt, als sie krank wurde und starb”.

Brenda nickt zustimmend, “während der Regenzeit leben viele Menschen im Schlamm. Wasser fließt durch ihre Hütten. Kinder und Senioren sind für Lungenentzündung und Bronchitis besonders anfällig und Todesfälle sind nicht ungewöhnlich. Kürzlich starb eine ältere Dame aus meiner Nachbarschaft an Bronchitis. Dem Hurrikan Agatha von 2010 geschuldet, wohnte sie in einem Haus aus Pappe und Plastik. Meine Nachbarschaft hat damals arg gelitten.”

© Foto: Frauke Decoodt 
Mangelernährung hat einen enormen Einfluß auf die Gesundheit und Entwicklung der Bewohner, insbesondere Kinder. Nach Zahlen der Vereinten Nationen lebt die Hälfte aller Guatemalteken unterhalb der Armutsgrenze und die Hälfte der Kinder sind schlecht ernährt. Diese Zahlen sind für die Slumbewohner tägliche Realität. “Wir haben nicht genug Geld, um für unsere Kinder etwas zu essen zu kaufen. Mit den Privatisierungen wurde alles teurer: Lebensmittel, Wasser, Gas, Strom”, erklärt Brenda empört. Escobar weist darauf hin, daß nicht nur kleine Kinder, sondern die meisten Bewohner der Siedlungen schlecht ernährt sind. “Wie ist das ein einem so reichen Land möglich? Ohne Arbeit und Einkommen werden die Leute hier verhungern. Das passiert bereits. Kürzlich starben drei fünfzehnjährige Teenager an Unterernährung.”

Eine weitere verbreitete Todesursache in diesen Nachbarschaften ist Gewalt. In diesen Slums gibt es häufig berüchtigt brutale Banden. Escobar, dessen Sohne ermordet wurde, möchte auf die mit dieser Gewalt verbundenen Zusammenhänge hinweisen. “Wenn es keine Arbeit, keine Schulen und nichts zu tun und eine derartige Armut gibt, daß die Eltern es sich nicht leisten können, ihre Kinder zu ernähren und in die Schule zu schicken, dann entsteht Kriminalität. Jugendliche werden leichte Beute für mächtige, organisierte Verbrecher. Diese Probleme sind nicht hier entstanden und sie kommen nicht nur hier vor. Ganz Guatemala leidet unter Drogen und Gewalt.”

Viele Bewohner sind hoffnungslos. Doña Rosa, eine ältere Dame, die sich zu Wort meldet als Brenda und Julia erzählen, kann ihre Tränen nicht zurück halten. “Was wird, wenn ich sterbe? Vielleicht werde ich diese Legalisierung nie erleben.”

Eine unzureichende Wohnungspolitik und ein wachsendes Wohnungsproblem

“Wie kommen wir dazu, in einem Slum am Rand eines Abgrunds oder auf dem Steilhang eines Berges zu wohnen? Nicht weil wir so leben wollen, sondern weil wir hoffen, zu überleben. Die Leute wohnen hier, weil sie keine Wahl haben, es gibt keine brauchbaren, erschwinglichen Unterkünfte. Für viel zu viele Menschen gibt es keinen Platz zum wohnen”, erklärt Brenda, während ihre fünf Jahre alte Tochter umher springt und ihre Aufmerksamkeit beansprucht.

Die Gründe, warum es so viele übervölkerte Slums gibt sind vielfältig. Der jüngste bewaffnete Konflikt, Naturkatastrophen, Bevölkerungswachstum und ein Mangel an Grundstücken oder Arbeit auf dem Land haben viele Guatemalteken dazu gezwungen, in die Städte zu ziehen und in den Slums zu leben.

Nach offiziellen Schätzungen werden Ende 2011 für 1,6 Millionen Haushalte Wohnungen fehlen, 15 Prozent davon in Guatemala City. “Der wachsende Bedarf übersteigt die Fähigkeit des Staates, den Wohnungsmangel der sich mittlerweile aufgebaut hat zu beseitigen”, resümiert die staatliche Einrichtung SEGEPAZ. Jene die sich mit der Wohnungskrise und den Bewohnern der Siedlungen gut auskennen stimmen zu, daß die Regierung niemals wirklich versucht hat, eine Lösung für das Wohnungsproblem zu finden. ASIES, eine Forschungseinrichtung stellt fest, daß die Wohnungspolitik der Regierung seit 1956 aus sporadischen Initiativen bestand, die von unfähigen Institutionen und mit unzulänglichen politischen Maßnahmen durchgeführt wurden, was zur Anhäufung eines derart großen Wohnungsmangels geführt hat.

Als Abhilfe für diese Situation wurde das “Gesetz für Wohnungsbau” 1996 endgültig verabschiedet. Unter Aufsicht des Ministeriums für Kommunikation, Infrastruktur und Wohnungsbau, bekam die neue Wohnungsbau-Initiative ein lächerlich geringes Budget. Die korrupte Verteilung der Mittel durch Regierungsbeamte, Baufirmen und Vertreter von Nachbarschafts-Organisationen haben für jene, die eine Unterkunft brauchen, wenig übrig gelassen. Unter diesem System eine Leistung zu beantragen ist nicht nur ein sehr langer bürokratischer Vorgang, der Antragsteller muß zusätzlich eine beachtliche Geldsumme beitragen, etwas das viele nicht haben. “In Anbetracht der Größe des Wohnungsproblems war es klar, daß dieses Gesetz keine Lösung darstellte”, folgert Lacán.

© Foto: Frauke Decoodt 
Die Wohnungspolitik der letzten paar Jahrzehnte konnte man hauptsächlich als kosmetische Lösungen bezeichnen, betont Helmer Velásquez von der Zeitung El Periodico. “Zuerst müssen die Bewohner ein Stück im Grunde unbewohnbares Land besetzen, damit ihnen die Behörden Aufmerksamkeit schenken. Nach einer Weile stellt man ihnen ‘wichtige’ Infrastruktur wie Treppen und gepflasterte Wege zur Verfügung. Insbesondere während den Wahlen wird über die Bedingungen in den Slums und über Legalisierung nachgedacht.” Lacán bestätigt, daß “nur zu Wahlzeiten Politiker den Weg in die Slums finden. Dann kommen sie mit Geschenken wie Wellblech und Beton, mit Versprechen wie Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung”.

Von Gesetzen zu Hungerstreiks

Wegen diesen unzähligen Problemen fingen die Bewohner der Elendsviertel zusammen mit ihnen verbundenen Sozialbewegungen an, selbst ein Gesetz zu entwerfen, das sich auf ihre eigenen Erfahrungen, die Verfassung, nationale Gesetze und die internationalen Verträge der Vereinten Nationen stützt, welche ihnen ein Recht auf Unterkunft garantieren. Die Universität von San Carlos und zuständige staatliche Einrichtungen arbeiten den Entwurf weiter aus. Lacán fährt fort, “2008 wurde das Gesetz dem Kongreß vorgelegt. Auch dort wurde der Entwurf überarbeitet und schließlich gaben parlamentarische Ausschüsse ihre Zustimmung. Seitdem blieb er stecken. Für das Gesetz sollte nur noch eine Lesung und eine Abstimmung stattfinden, im Prinzip eine Formalität”.

Am 23. August 2011, als das Gesetz zum x-ten Mal wieder nicht beschlossen wurde, beschlossen ein paar Aktivisten, einen “Elendsviertel-Kongreß” zu gründen und vor dem Eingang [des Parlaments] zu kampieren, bis man ihnen zuhört. “So viele Regierungen sind gekommen und gegangen und keine hat sich jemals um uns Gedanken gemacht. Nun sind wir hier und bleiben, bis sie das Gesetz annehmen”, erklärt die ältliche Doña Rosa kämpferisch.

“Wir kämpfen für ein Gesetz, von welchem die gesamte guatemaltekische Bevölkerung etwas haben wird”, betont Brenda. “Wir fordern, daß man aus den Hütten bewohnbare Häuser macht, daß unser Land und unsere Häuser legalisiert werden, damit wir endlich eine Grundversorgung in Anspruch nehmen können, wir fordern, daß jene Familien Unterkünfte bekommen, die sie wirklich benötigen.”

Escobar wünscht sich sozial verantwortliche Einrichtungen und eine Wohnungspolitik, die von einem ausdrücklichen Wohnungsministerium gemacht wird. Eine gute Wohnungspolitik braucht ein gutes Gesetz als Grundlage.

Wissenschaftler weisen jedoch darauf hin, daß ein Gesetz und Legalisierung nicht genug sind. Weiteres Augenmerk sollte der Bildung, der Beschäftigung und den Lebensbedingungen gelten, kurz gesagt, einem sozio-ökonomischen Modell, das den Teufelskreis der Armut durchbricht. Andernfalls werden die Slums weiter wachsen.

Doch nach beinahe vier Monaten vor dem Kongreß geht den Slumbewohner langsam die Geduld aus. Nachdem das Gesetz am 22. November erneut nicht angenommen wurde, beschlossen drei Bewohner, zu denen die junge Mutter Julia gehört, in einen Hungerstreik zu treten.

Falls diese neue Form des Protestes zu nichts führt und der Kongreß das Gesetz nicht beschließt, ist es wahrscheinlich, daß es weitere Opfer nicht nur in weit abgelegenen Slums, sondern auch Opfer vor dem Eingang der Repräsentanten des Volkes geben wird.

(Dieser Artikel wurde am 02.12.2011 auf Niederländisch erstmalig veröffentlicht. Als die englische Version, auf der diese Übersetzung basiert, am 07.01.2012 veröffentlicht wurde, kampierten die Aktivisten immer noch vor dem Kongreß, hatten aber ihren Hungerstreik nach 19 Tagen aufgegeben.)


Copyright für Fotos und Text: Frauke Decoodt
Der deutsche Text steht mit Genehmigung der Autorin unter der Creative Commons Lizenz: by-nc-sa


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Zur Autorin:

Frauke Decoodt studierte an der English University of Sussex und schloß mit einem Master der Gewalt- und Konflikt-Anthropologie ab. Dem folgte eine Postgraduiertenausbildung für Internationalen Forschungsjournalismus. Danach arbeitete sie ein Jahr in einer Menschenrechts-Organisation. Zur Zeit lebt sie in Guatemala, von wo sie berichtet. Lateinamerika hatte sie zuvor schon öfter bereist und miterlebt, wie die Globalisierung bei indigenen Gemeinschaften ankommt.


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Erstellt: 12. Januar 2012 21:16
Geändert: 12. Januar 2012 23:41
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