Initiative Pro Netzneutralität

Wie Schweden und Norweger die Macht der '1 Prozent' gebrochen haben

28. Januar 2012 04:27

Autor: George Lakey, 25. Januar 2012
Übersetzung: BrunO

14.05.1931, Arbeiterdemo in Ådalen (Schweden), kurz bevor das Militär auf die Demonstranten schoß. Pressefoto: Sten Söderberg, Info 1), 2)

Während viele von uns damit beschäftigt sind sicherzustellen, daß die Occupy-Bewegung etwas dauerhaftes bewirkt, lohnt es sich einen Blick auf ändere Länder zu werfen, in denen es den Volksmassen gelungen ist, gewaltfrei einen hohen Grad an Demokratie und ökonomische Gerechtigkeit zu erreichen. Z.B. haben Schweden aber auch Norwegen nach einem ausdauernden gewaltfreien Kampf in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts eine signifikante Verschiebung der Macht erlebt. Sie “entließen” die oberen 1 Prozent jener Leute, die das gesellschaftliche Sagen hatten und legten den Grundstein für etwas ganz anderes.

In beiden Ländern gab es eine lange Geschichte entsetzlicher Armut. Als die 1 Prozent regierten, wanderten hunderte und tausende Menschen aus, um nicht zu verhungern. Unter der Leitung der Arbeiterklasse jedoch, bauten beide Länder robuste und erfolgreiche Ökonomien auf, welche Armut nahezu eliminiert haben, den freien Universitätszugang ausweiteten, Elendssiedlungen abschafften, erstklassige Gesundheitsversorgung zu einem Recht machten und ein System der Vollbeschäftigung schufen. Anders als die Norweger haben die Schweden kein Öl gefunden, doch das hat sie nicht davon abgehalten, etwas aufzubauen, das im letzten CIA World Factbook als beneidenswerter Lebensstandard bezeichnet wird.

Keines dieser Länder ist ein Utopia, wie die Leser der Kriminalromane von Stieg Larsson, Kurt Wallander und Jo Nesbro wissen werden. Kritische linksorientierte Autoren wie diese versuchen, Schweden und Norwegen weiter in Richtung einer perfekten Gesellschaft zu treiben. Aber als amerikanischer Aktivist, der 1959 das erste mal mit Norwegen Bekanntschaft gemacht, Sprache und Kultur ein Stück weit gelernt hat, haben mich die Errungenschaften die ich entdeckte, sehr erstaunt. Ich erinnere mich z.B. daran, wie ich stundenlang mit dem Rad durch eine kleine Industriestadt fuhr, und vergeblich nach heruntergekommenen Unterkünften Ausschau hielt. Manchmal leistete ich dem was ich sah Widerstand und dachte mir Gründe aus, welche das was hier anders war “erklären” sollten: “Ein kleines Land”, “große Homogenität”, “gemeinsame Wertvorstellungen”. Schließlich gab ich es auf, meine Denkschablonen auf diese Länder anzuwenden und erfuhr den wahren Grund: Ihre eigenen Geschichte.

Danach mußte ich erfahren, daß die Schweden und Norweger im gewaltlosen Kampf einen hohen Preis für ihre Errungenschaften gezahlt haben. Es gab eine Zeit, in welcher die skandinavischen Arbeiter nicht erwarten konnten, daß Wahlen zu den von ihnen gewünschten Ergebnissen führen könnten. Sie erkannten, daß sich die auf Wahlentscheidungen gestützte Demokratie unter den 1 Prozent gegen sie richtet, deshalb waren gewaltfreie direkte Aktionen erforderlich, um genug Druck für Veränderungen aufzubauen.

In beiden Ländern mußte das Militär ausrücken und die 1 Prozent zu verteidigen; Menschen starben. Der berühmte schwedische Regisseur Bo Widerberg hat die schwedische Geschichte mit Ådalen 31, sehr anschaulich erzählt, darin beschreibt er die anno 1931 getöteten streikenden Arbeiter und die ersten Anfänge eines landesweiten Generalstreiks. (Mehr darüber können Sie im Beitrag von Max Rennebohm in der Datenbank für globale gewaltfreie Aktion nachlesen.)

Die Norweger hatten es schwerer, eine beständige und flächendeckende Volksbewegung zu organisieren, da sich die kleine norwegische Bevölkerung von [damals] etwa drei Millionen [heute ca. 5 Mill.] auf ein Gebiet von der Größe Großbritanniens verteilte. Die Menschen waren durch Berge und Fjorde voneinander getrennt und sie sprachen in voneinander isolierten Tälern regionale Dialekte. Im 19ten Jahrhundert wurde Norwegen zuerst von Dänemark, dann von Schweden regiert; für Europa waren die Norweger bedeutungslose “Bauerntölpel”. Erst 1905 wurde Norwegen endgültig unabhängig.

Als sich die Arbeiter in den frühen Jahren um 1900 zu Gewerkschaften zusammen schlossen, wandten sie sich dem Marxismus zu, um sowohl die Revolution als auch unmittelbare Verbesserungen zu organisieren. Der Sturz des russischen Zaren versetzte sie in Euphorie und die norwegische Arbeiterpartei trat der von Lenin organisierten Kommunistischen Internationale bei. Sie blieben jedoch nicht lange dabei. Was die Norweger am stärksten von der leninistischen Strategie abbrachte war die Gewaltfrage: Die Norweger wollten ihre Revolution durch einen kollektiven gewaltfreien Kampf gewinnen, zu dem die Bildung von Kooperativen und die Teilnahme an Wahlen gehören sollte.

In den 20er Jahren gewannen die Streiks an Intensität. Die Stadt Hammerfest bildete 1921 eine Kommune, die von Arbeiterräten geleitet wurde, die Armee griff ein, um sie niederzuschlagen. Die Antwort der Arbeiter grenzte an einen landesweiten Generalstreik. Die Arbeitgeber wehrten den Streit mit Hilfe des Staates ab, doch erhoben sich die Arbeiter erneut im Metallarbeiterstreik von 1923 bis 1924.

Die norwegischen 1 Prozent beschlossen, sich nicht nur auf die Armee zu verlassen; 1926 gründeten sie eine soziale Bewegung, die sich Patriotische Liga nannte, viel Zulauf aus der Mittelschicht hatte. In den 30er Jahren verfügte die Liga über nicht weniger als 100.000 Mitglieder, um Streikbrechern bewaffneten Schutz zu bieten – das in einem Land von nur drei Millionen!

In der Zwischenzeit nahm die Arbeiterpartei jeden auf, egal ob es an seinem Arbeitsplatz eine Gewerkschaft gab oder nicht. Marxisten aus der Mittelklasse und einige Reformer kamen in die Partei. Viele Feldarbeiter vom Land schlossen sich der Arbeiterpartei an, genauso wie manche kleinen Landbesitzer. Die Führung der Arbeiterpartei wußte, wenn man in einem langwierigen Kampf eine gewaltfreie Kampagne aufrecht erhalten will, muß man ständig auf Menschen zugehen und Organisationsarbeit leisten. Inmitten dieser zunehmenden Polarisierung starteten die Arbeiter 1928 eine weitere Welle von Streiks und Boykotten.

Die Depression hatte 1931 ihren Höhepunkt. Es waren mehr Menschen als in jedem anderen nordischen Land arbeitslos. Anders als in den USA behielt die norwegische Gewerkschaftbewegung die entlassenen Arbeiter als Mitglieder, selbst wenn sie keine Beiträge zahlen konnten. Diese Entscheidung machte sich bei Massenmobilisierungen bezahlt. Als der Arbeitgeberverband die Beschäftigen aus den Fabriken aussperrte, um Lohnsenkungen durchzudrücken, wehrten sich die Arbeiter mit massiven Demonstrationen.

Viele Leute bemerkten dann, daß ihre Hypotheken gefährdet waren. (Schonmal gehört?) Die Depression ging weiter und die Bauern waren nicht mehr in der Lage, ihre Kreditraten zu bezahlen. Als diese Turbulenzen die Landwirtschaft erfaßten, versammelten sich Menschenmassen um gewaltlos zu verhindern, daß Familien zwangsweise von ihren Höfen geräumt wurden. Die Landwirtschaftspartei, die früher mit den Konservativen verbündet war, begann sich von den 1 Prozent zu distanzieren; manche konnten erkennen, daß die Fähigkeit der Wenigen über die Vielen zu regieren auf der Kippe stand.

1935 befand sich Norwegen am Rande des Abgrundes. Die von den Konservativen geführte Regierung verlor mit jedem Tag an Legitimation; die 1 Prozent befanden sich zunehmend in einer ausweglosen Situation, da die Militanz unter Arbeitern und Bauern zunahm. Bis zu einem kompletten Umsturz mochte es nur noch ein paar wenige Jahre dauern, dachten radikale Arbeiter. Doch die Not der Armen verschlimmerte sich täglich und die Arbeiterpartei sah sich dem Druck seiner Mitglieder ausgesetzt, deren Leid zu mildern, was sie nur hätte tun können, wenn sie Regierungsverantwortung übernommen und mit der anderen Seite einen Kompromiß ausgehandelt hätte.

Genau das tat sie. In einem Kompromiß, der den Eigentümern weiterhin das Recht gestattete, ihre Firmen zu besitzen und zu verwalten, übernahm die Arbeiterpartei in einer Koalition mit der Landwirtschaftspartei die Regierungsgeschäfte. Sie erweiterten die Wirtschaft und richteten öffentliche Beschäftigungsprojekte ein, um eine Vollbeschäftigungspolitik zu verwirklichen, die zum Fundament der norwegischen Wirtschaftspolitik wurde. Der Erfolg der Arbeiterpartei und die anhaltende Militanz der Arbeiter ermöglichte immer weitere Einschränkungen der Privilegien der 1 Prozent, bis schließlich die meisten großen Firmen im Besitz der öffentlicher Hand waren. (Auch hierzu gibt es einen Beitrag in der Datenbank für globale gewaltfreie Aktion.)

Auf diese Art und Weise verloren die 1 Prozent ihre historische Macht, die Wirtschaft und Gesellschaft zu dominieren. Erst drei Jahrzehnte später konnten die Konservativen wieder in eine Regierungskoalition zurück kehren, mittlerweile hatten sie die neuen Spielregeln akzeptiert, etwa Produktionsmittel die sich überwiegend in öffentlichem Besitz befinden, eine extrem progressive Besteuerung, strenge Handelsvorschriften für öffentliche Güter und die nahezu völlständig Abschaffung der Armut. Als die Konservativen schließlich einen Versuch mit neoliberaler Politik wagten, generierte die Wirtschaft eine Blase und bewegte sich auf ein Desaster zu. (Auch schonmal gehört?)

Die Arbeiterpartei war zu Stelle, verstaatlichte die drei größten Banken, entließ das Management, ließ die Aktionäre ohne einen Pfennig sitzen und weigerte sich, für irgend eine der kleineren Banken mit Rettungsgeldern [auf Deutsch: “Schirme”] einzuspringen. Die gründlich entschlackte norwegische Finanzbranche gehörte nicht zu denen, die in anderen Ländern 2008 in eine Krise schlitterten; sorgfältig reguliert und in überwiegend öffentlichem Besitz, war die Branche solide.

Obwohl die Norweger Ihnen dies nicht gleich bei der ersten Begegnung erzählen werden, bleibt es ein Fakt, daß der hohe Grad an Freiheit und der gleichmäßig verteilte Wohlstand anfing, als Arbeiter und Bauern zusammen mit Verbündeten aus der Mittelschicht einen gewaltfreien Kampf aufnahmen, der dem Volk die Macht gab, im Sinne des Allgemeinwohls zu regieren.


Der Original-Artikel “How Swedes and Norwegians broke the power of the ‘1 percent’” wurde unter der Creative Commons Lizenz: by-sa veröffentlicht. Für diese Übersetzung gilt das Lizenzmodell dieses Blogs.


Kommentar:

Diese spannende Geschichtslektion gefällt mir. Auch daß es möglich ist, den Finanzsektor zu regulieren und Schaden abzuwenden. Vollbeschäftigung durch Beschäftigungsprojekte kann aber nicht die Antwort auf das Problem sein, daß zum einen die bezahlte Arbeit immer knapper wird, daß man zum anderen Arbeit immer schlechter bezahlt. Arbeit muß anders definiert und anständig bezahlt werden, dann braucht man keine Beschäftigungsprojekte. Jeder Mensch, welcher der Gesellschaft nicht schadet, sondern sie durch seinen persönlichen Beitrag bereichert, arbeitet. Trotzdem wäre es interessant zu wissen, wie sinnvoll oder sinnfrei man die Menschen damals in solchen Projekten beschäftigt hat. Wer was weiß, bitte eine Mail schicken.


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Erstellt: 28. Januar 2012 04:27
Geändert: 1. Februar 2012 11:45
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