Bevor sich jemand verunsichert fühlt, verweise ich auf den Artikel 102 unseres Grundgesetzes. Dieser enthält eine einzige, eindeutige Aussage: “Die Todesstrafe ist abgeschafft.” Anders als bei anderen Artikeln folgen keine Hinweise auf Einschränkungen und deren berühmte nähere Regelung durch Gesetze. Eindeutiger geht es nicht, selbst wenn Absatz 2 von Artikel 2 GG rein sprachlich so interpretiert werden könnte, als ob die Todesstrafe möglich wäre.
Solange das Grundgesetz unser höchstes gültiges Gesetz ist, dürfte an der Unzulässigkeit der Todesstrafe kein Zweifel bestehen. Wäre eine Wiedereinführung der Todesstrafe über eine Europäische Verfassung denkbar? Wer will das?
Bisher haben die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft ihr Recht immer harmonisiert. Europäisches Recht wurde von souveränen Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Gesetzgebung zu eigenem Recht gemacht. Es gibt noch keine Vereinigten Staaten von Europa. Kein Staat hat bisher seine Souveränität oder Teile davon an ein staatliches Konstrukt namens Europa abgegeben. Die Entwicklung zeigt aber in diese Richtung.
Mit dem Vertrag von Lissabon soll die Arbeitsfähigkeit der EU verbessert werden. Diesen Vertrag haben die Iren am 12.06.2008 in einer Volksabstimmung abgelehnt. Wir dürfen leider nicht abstimmen. Deutschland hat den Vertrag derzeit noch nicht unterzeichnet. Der Weg steht jetzt aber frei. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen von Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden am 30.06.2009 entschieden (Pressemeldung), daß der Lissabon-Vertrag verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Es hatte lediglich gegen das Begleitgesetz Bedenken und den Gesetzgeber verpflichtet, Bundestag und Bundesrat hinreichend Beteiligungsrechte an europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren einzuräumen. Dieses Gesetz ist derzeit in Bearbeitung.
Prof. Dr. Schachtschneider hatte in seiner Klageschrift (PDF, S. 217) auf eine erneute Ermöglichung der Todesstrafe hingewiesen. Das Gericht hat sich in der mündlichen Verhandlung offenbar nicht mit der Todesstrafe befaßt. Auch im Text des Urteils (Volltext) habe ich nichts dazu gefunden.
Über das Amtsblatt der Europäischen Union kann man die Charta der Grundrechte der Europäischen Union online abrufen. Dr. Schachtschneider beruft sich in seiner Klageschrift auf die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, wie sie im Amtsblatt Nr. C 303 vom 14.12.2007 veröffentlicht worden sind. Im Amtsblatt Nr. C 306 vom 17.12.2007 sind diese Erläuterungen nicht mehr enthalten.
Diese Erläuterungen stützten sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarates. Diese trat 1953 in Kraft und wurde durch Zusatzprotokolle beständig weiterentwickelt. Mit dem Protokoll Nr. 6 vom 28.04.1983 wurde die Todesstrafe in Friedenszeiten abgeschafft. Mit Protokoll Nr. 13 vom 03.05.2002 soll die Todesstrafe gänzlich abgeschafft werden. Dieses Protokoll trat am 01.07.2003 in Kraft, wurde aber von Armenien, Aserbaidschan, Italien, Lettland, Polen, Russland und Spanien nicht ratifiziert.
Derartige Erläuterungen zur Charta der Grundrechte wären in der Tat einer europäischen Demokratie nicht würdig, da sie eine Tötung zur Durchsetzung von geltendem Recht oder zur Niederschlagung von Aufruhr und Aufstand als zulässig und die Todesstrafe zu Kriegszeiten als legitim ansahen. Beschämend ist trotzdem, daß die Todesstrafe in den vier EU-Mitgliedstaaten Italien, Lettland, Polen und Spanien formal immer noch existiert.
Die Todesstrafe ist in Europa faktisch abgeschafft und wird nach Amnesty International in Europa nur noch von Weißrussland vollstreckt. Vielleicht wäre die Frage interessanter, welchen Bestand das Verbot der Todesstrafe unter außergewöhnlichen Umständen hätte.
Nehmen wir das klägliche Scheitern des Kapitalismus an. Nehmen wir an, es gelingt uns langfristig nicht, berechtigte Interessen auf friedliche und zivilisierte Art und Weise einigermaßen gerecht auszugleichen. Was nützte dann das Recht auf Leben oder das Verbot der Todesstrafe, wenn es zu mit legalen Mitteln nicht beherrschbaren sozialen Aufständen käme?
Welchen praktischen Nutzen hat eigentlich das Widerstandsrecht, welches uns als Souverän in Art. 20 GG Abs.4 zugestanden wird? Würde es Sinn machen, in einer wie gerade eben angenommenen Situation das Bundesverfassungsgericht anzurufen um feststellen zu lassen, ob man berechtigt sei mangels anderer Abhilfemöglichkeit Widerstand zu leisten?
Wahrscheinlich wird es zu solchen Zuständen bei uns nicht kommen. Der Kapitalismus schafft es schon jetzt weltweit, vier Fünftel der Menschen in Armut zu halten, ohne daß jemand sein theoretisches Fundament in Frage stellt. Auch wir werden noch sehen, wie viel mehr wir uns bescheiden können.
Der Kapitalismus funktioniert immerhin. Er hat nur den unschönen Fehler mangelnder Gerechtigkeit. Gewinn redlich erwirtschaften ist nicht verwerflich. Die Maxime allen Wirtschaftens sollte jedoch nicht der maximale Profit sondern der maximale Nutzen der erzeugten Güter und Dienstleistungen sein. Der Profit nutzt nur jenen die profitieren. Der Nutzen nutzt allen Benutzern. Wäre ein humanerer Kapitalismus nicht ein edles Ziel für die Vereinigten Staaten von Europa?
Könnte Europa nicht der Anfang einer besseren Globalisierung sein? Man müßte lediglich etwas mehr Volkswirtschaftslehre statt Betriebswirtschaftslehre an den Unis lehren und in den Lehrbüchern die maximale monetäre Rendite durch den maximalen praktischen Nutzen ersetzen. Die Ökonomie würde dadurch wieder das werden, was sie ihrem Wortsinn nach ist. Das sinnvolle Haushalten mit Ressourcen.