Initiative Pro Netzneutralität

Egal wie es war, es ist Hartz IV!

20. September 2012 02:30


© Foto: Zacke CC: BY-NC
Anfang September wurde eine 55jährige, arbeitslose Frau in Ihrer Wohnung tot aufgefunden. Dem Augenschein nach war sie verhungert. Auch soll sie Nachbarn um Geld oder Nahrung angebettelt haben. Später ergab die Obduktion einen Magendurchbruch als Todesursache. Von Seiten des zuständigen JobCenters hieß es, die Frau wäre seit Januar nicht mehr Kundin gewesen.

Ob die Frau nun verhungert ist oder nicht und welche Rolle das Hungern bei ihrem Magendurchbruch spielte, ist in diesen Fall genau so egal wie die Frage, ob man ihr womöglich mit Sanktionen gedroht hat oder sie sich aus anderen Gründen von einer weiteren "Zusammenarbeit" mit dem JobCenter verabschiedet hat. Das Menschen sterben können, ist die letzte Konsequenz von Hartz IV.

Ich selber hatte bisher meistens mit vernünftigen Fallmanagern zu tun, kenne aber auch andere Fälle und weiß, wie machtlos man sich dem JobCenter gegenüber fühlen kann. Menschen reagieren darauf verschieden. Es hängt auch davon ab, wie sehr jemand sozial eingebunden oder auf sich allein gestellt ist. Daß das JobCenter sanktionieren und jegliche Leistungen komplett streichen kann, ist für jene, die auf sich allein gestellt sind und denen weder Familie noch Freunde helfen würden, extrem existenzbedrohend.

Unter Umständen fängt der Eingriff in das Leben schon viel früher an, wenn man Biolebensmittel bevorzugt und Vegetarier oder Veganer ist. Bekommt man Entstprechendes für Lebensmittelgutscheine oder ist man dann schon zu anspruchsvoll?

Wie ist das überhaupt mit den absoluten Grundrechten? Sind solche Sanktionen, ob sie nun ausgesprochen werden oder nur als Drohung im Raum stehen, überhaupt mit Artikel 2 des Grundgesetzes vereinbar und darf man von einer zivilisierten Gesellschaft nicht mindestens ein vernünftiges Überleben erwarten?

Das Bundesverfassungsgericht gab in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 zwar nicht an, wie hoch der Regelsatz sein müsse, entschied aber, "dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen." [Art. 1 Abs 1 - Unantastbarkeit der Menschenwürde, Art. 20 Abs. 1 - demokratischer Sozialstaat]

Das Bundesverfassungsgericht mahnt also eine Anpassung nach oben an. Demnach müßte eine "Anpassung" nach unten in Gestalt von Sanktionen noch verfassungswidriger sein, doch das kümment den schwarzgelben Gesetzgeber offenbar gar nicht. Die Zeit vergeht zäh und wir hangeln uns mit unserer Hoffnung von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum anderen.

Mir schwant außerdem Ungutes. Das Bundesverfassungsgericht hat am 12.09.2012 keine einstweilige Anordnung gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den Fiskalpakt erlassen, obwohl diese Gesetze nicht nur unsere Demokratie beschädigen, sondern auch eine weitere Schwächung des Sozialstaates mit sich bringen können. Es hat mit seinen Auflagen sogar einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren vorgegriffen. Es winkt die Gesetze durch und mahnt nur eine Begrenzung der Zahlungsverpflichtungen, Transparenz und ausreichende Beteiligung des Parlaments an, was wohl frommer Wunsch bleiben bzw. weitere langwierige Klagen erfordern wird. Möglicherweise wird das Gericht irgendwann genau so regierungsgenehme Entscheidungen zu Hartz IV treffen, zumal bisher wenige tödliche Kollateralschäden von Hartz IV bekannt geworden sind.

Als Empfänger von Leistungen nach dem Konzept Hartz IV sollen wir alles unternehmen, um unsere Bedürftigkeit nach solchen Leistungen zu beenden. Auf ihre Art hat das diese Frau, der ich hier einen kleinen virtuellen Grabstein setze, auf perfekteste Art getan. Es genügt aber auch, wie Sebi in seinem Vortrag (siehe unten) auf dem Barcamp der Piraten am 01.09.2012 erläutert hat, einfach alle seine Rechte durch Unterzeichnung einer Eingliederungsvereinbarung abzutreten. Danach muß man gut funktionieren und alles tun, was den Fallmanagern zur beruflichen Eingliederung einfällt. Meist sind dies mehr oder oft weniger sinnvolle Qualifikationen oder Maßnahmen, die verständlicherweise oft nur der zusätzlichen Kohle wegen abgesessen oder simuliert werden. Daß es durchaus gute, inhaltlich interessante Maßnahmen gibt und man damit unter diesen von Zwang bestimmten Umständen Perlen vor die Säue wirft, ist eine andere traurige Geschichte - oder wie der mir früher skurril erscheinende Adorno schrieb: "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen." Schön wäre außerdem, für richtige Arbeit in einem "schönen" Maßnahmenprojekt auch richtig bezahlt zu werden.

Wir werden vermutlich nie erfahren, was wirklich vorgefallen ist, ob sich jene Frau nicht weiter demütigen lassen wollte und deshalb keinen Antrag auf Weiterbewilligung von Leistungen stellte oder ob doch Sanktionen im Spiel waren. Den in manchen Berichten angesprochen psychischen Aspekt lasse ich ganz außen vor, weil es bequem ist, Opfer zu psychiatrisieren und damit für ihre Lage selbst verantwortlich zu machen, und weil man jeden Menschen mit ausreichendem Druck zu irrationalem Verhalten bringen kann. Man nennt dies Menschen brechen.

Vielleicht werden wir nie die Wahrheit erfahren, weil es dabei ja auch um den Straftatbestand grober Fahrlässigkeit gehen könnte.

Sie hätte also lieber funktionieren und vielleicht irgend eine Arbeit aufnehmen sollen, egal ob ihr diese zusagt oder nicht. Im Extremfall heißt Arbeiten, für das Überleben seine Lebenszeit zu tauschen. Zeit, die man selber sinnvoller und für die Gesellschaft nützlicher ausfüllen könnte. Mit Selbstverwirklichung wie sie jedem zustehen sollte, haben solche Arbeiten nichts zu tun. Dazu muß man schon zu den besseren Leuten gehören, reichere Eltern gehabt, alle Chancen der Eliteausbildung genossen haben. Deutschland ist immer noch als eines der sozial selektivsten Länder bekannt.

Sie hätte eine Arbeit machen sollen, die ihr die letzte Freiheit geraubt hätte und ihre Lage hätte sich dadurch nichteinmal verbessert. Sie wäre nur aus der Arbeitslosenstatistik des Arbeitsamtes gefallen, damit wieder Erfolgszahlen präsentiert werden können.

Daß wir einen großen Niedriglohnsektor haben, ist auch bekannt. Doch dann hätte sie ja aufstocken können. Die Arbeit von manchen Menschen ist eben nichts mehr wert und das wenige was diese mit wenig Geld tun können, wenn sie in den Tag hinein leben, ist es natürlich auch nicht. Außerdem soll niemand auf Kosten der Allgemeinheit (in den Tag hinein) leben. Notfalls wird noch mehr als diese Kosten ausgegeben, um diesem Prinzip Nachdruck zu verleihen. Ich vermute, daß man mit dem, was Hartz IV die Allgemeinheit kostet, mindestens vier mal so viele Menschen "durchfüttern" könnte. Wer ist also schädlicher, die "Schmarotzer" oder das "Prinzip"?

Sie hätte irgend etwas arbeiten sollen, egal wie wenig sie verdient hätte. Über Geld kontrolliert man Menschen und wer eigenes Geld verdient beweist, daß er funktioniert.

Arbeit geht über alles - selbst wenn es für manche Menschen keine passende gibt. Dann eben eine unpassende. Hauptsache Arbeit!

Und was geht einem Menschen ganz zuletzt durch den Kopf, wenn er im Sterben liegt?

Die Australierin Bronnie Ware begleitet Sterbende bis zum letzten Atemzug und beschreibt in einem Buch, was sterbende Menschen am meisten bedauern. Zu wenig gearbeitet zu haben kommt darin nicht vor. Wohl aber zu viel und nicht das Leben gelebt zu haben, das man eigentlich leben wollte. An erster Stelle steht, dazu nicht mutig genug gewesen zu sein. Dann folgt, daß man wegen der Arbeit keine Zeit dafür hatte.

Dieser Tod sollte viele Diskurse provozieren, nicht nur über Harz IV, sondern auch über den Begriff der Arbeit, wie human oder inhuman gesellschaftliche Veränderung ablaufen und über die Verteilung von Lebenschancen in einer reichen Geselschaft. Der neuste Armutsbericht der Bundesregierung ergab, daß die oberen wohlhabenden 10 Prozent der Bevölkerung gut 50 Prozent des gesellschaftlichen Reichtums besitzen, während sich die unteren 50 Prozent ein Prozent "Reichtum" teilen dürfen. Zugleich ist der Gesamtreichtum gestiegen. So sieht unser demokratischer Sozialstaat heute aus!

Was können wir tun? - Soziale Gerechtigkeit einfordern, d.h. Occupy und ähnliche Bewegungen unterstützen, ein bedingungsloses Grundeinkommen aus Vernuftgründen verlangen, nicht darum betteln, uns an Demonstration und Petitionen zu allen sozialen Themen beteiligen, damit für sie eine Öffentlichkeit entsteht und Piraten wählen, weil die alten Parteien auf aktuelle und zukünftige Probleme nur Antworten der Vergangenheit parat haben. Diese Frau hätte nicht diesen einsamen und äußerst qualvollen Tod sterben müssen.


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Erstellt: 20. September 2012 02:30
Geändert: 14. Oktober 2020 21:15
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